Zweiunddreißigste Verzierung

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MINA

„You are my sun, my moon and all of my stars."

E. E. Cummings

„Du siehst wunderschön aus", höre ich Rabia murmeln, während ich mich zufrieden im Spiegel betrachte. Das Kleid für meine anstehende Verlobung ist champagnerfarben, schlicht und reicht mir bis zur Wade. Der taillenbetonte Schnitt schmeichelt meiner Figur und das leichte Dekolleté legt die Hand meines M&M-Tattoos auf meinem Schlüsselbein frei. Rabia erscheint neben meiner Reflexion, fährt mir durch die halboffenen Locken und lächelt mich mit tränengefüllten Augen an. „Danke, Engel, aber mit dir kann ich niemals mithalten", ich drehe mich zu ihr, greife nach ihrer Hand und streiche ihr vorsichtig über den Handrücken. „Du warst schon immer die Hübschere", flüstert Rabia, als sie mich umarmt und entlockt mir ein Lachen. „Wer von uns wird hier von unserer gesamten Sippschaft kürt güzeli (kurdische Schönheit) genannt?", frage ich sie. „Die haben alle keine Ahnung. Du hast eine Ausstrahlung, die jeden zu Boden zwingt. Ohne dich zu kennen, wissen die Leute bereits, wie stark du bist, wie wundervoll. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich gefragt wurde, wie du es schaffst, so eine Stärke auszustrahlen", Rabias Worte berühren mich so tief, dass auch meine Augen sich mit Tränen füllen.
„Wieso weinen diese hübschen Damen denn?", höre ich Ubeyd fragen. „Vermutlich haben sie daran gedacht, wie gutaussehend ihre Brüder sind", antwortet ihm Hamza Abi und augenblicklich verfallen wir vier in Gelächter. Die beiden nähern sich uns ebenfalls und aus der Zweisamkeit mit meiner Schwester wird ein Gruppenkuscheln, das mich zu noch mehr Tränen rührt. „Ich liebe euch alle so sehr", flüstere ich mit geschlossenen Augen und spüre Ubeyds fester werdenden Griff. „Und wir lieben dich", murmelt Hamza Abi, ehe er mir einen Kuss auf die Schläfe drückt und als erster die Umarmung auflöst. „Wir sollten jetzt aber runter, die Gäste müssten jeden Moment kommen", er nickt in die Richtung meiner Zimmertür und ich nicke bestätigend.
„Kann ich vielleicht nochmal kurz mit meiner besten Freundin reden, ehe sie runtergeht?", ertönt Mehdis Stimme und unwillkürlich grinse ich breit. Er lehnt im Türrahmen und beobachtet uns. „Hätte mich gewundert, wenn du nicht gekommen wärst", murmelt Ubeyd und grinst anschließend frech. „Schnauze", Mehdi haut ihm beim Vorbeigehen auf den Nacken und entlockt meinem Zwilling einen schmerzerfüllten Ton.

Mehdis Augen gleiten über mein Gesicht, während seine rechte Hand zu meinem linken Schlüsselbein wandert, da wo die Hand meines M&M-Tattoos zu sehen ist. „Vergiss nicht, dass ich für immer hier verewigt bin", er lächelt leicht, und legt sich die linke Hand auf die eigene Brust, „und du hier." Wir beide atmen tief durch und als hätten wir uns abgesprochen, sagen wir gleichzeitig: „Als ob wir das jemals vergessen könnten." Ich schenke meinem besten Freund das schönste Lächeln, das ich unter Tränen hervorbringen kann, und umarme ihn. „Er passt so wahnsinnig perfekt an deine Seite, deswegen tut es nicht allzu sehr weh, dich gehen zu lassen", Mehdi bringt etwas Abstand zwischen uns, um mir ins Gesicht zu schauen. „Dankeschön Mehdi, für alles", flüstere ich, ehe ich meinen besten Freund nochmal in eine Umarmung ziehe und anschließend gemeinsam mit ihm ins Wohnzimmer laufe.

Unsere gesamte Familie — sowohl die Blutsverwandten als auch die Seelenverwandten — sind heute bei uns versammelt. Sie haben sich auf die Terrasse, den Garten und das Wohnzimmer verteilt und warten auf Vahaps Familie. Heute wird um meine Hand angehalten und im Anschluss dazu findet die Verlobungsfeier statt. Ich lasse meine Blicke nochmals über alle Vorbereitungen gleiten, kontrolliere ob etwas fehlt oder nicht am rechten Platz ist, als es an der Tür klingelt. Da bereits alle anderen Gäste eingetroffen sind, kann es sich bei den nächsten Gästen nur um Vahap und seine Familie handeln. Mit zittrigen Beinen laufe ich zur Tür, warte, bis meine Eltern und Geschwister ebenfalls im Flur stehen und öffne schließlich die Tür.

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