Kapitel 16

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"Ich soll dir von meinem Bruder 'danke' sagen."

Martin und ich sitzen schon seit einer Weile in einem Café in einer kleinen Seitenstraße in der Frankfurter Fußgängerzone.

Er meinte, dass er hier immer mal mit ein paar seiner Mitspieler wäre. Wahrscheinlich hat der Besitzer ihn auch deshalb so freudig begrüßt und uns einen Tisch in der hintersten Ecke verschafft, wo man uns nicht sofort sieht.

"Wegen was?" Martin schaut mich mit hochgezogener Augenbraue an.

"Wegen letzten Wochenende...", beginne ich, "Dass du mir geholfen hast."

Ich schaue auf meinen Chai Latte. Ich habe das Erlebnis mit Lennard immer noch nicht ganz verdaut. Es hängt mir schon noch nach, aber ich glaube das ist normal.

"Das war selbstverständlich. Hätte ich dich da sitzen lassen sollen?", fragt Martin rhetorisch.

Ich nippe nur an meinem Heißgetränk und schaue ihn leicht an.

"Ich gehe von aus, dein Bruder hat sich diesen Lennard nochmal vorgeknöpft?"

"Ja, hat er", antworte ich und verdrehe die Augen, als ich an die vergangene Woche zurückdenke.

Rückblick

Genau 18:00 Uhr leuchtet auf meinem Wecker neben meinem Bett auf.

Nach dem Gespräch mit Elias und Theresa habe ich mich sofort ins Bett gelegt. Zu sehr hing mir die Nacht noch nach.

Dass ich jetzt aber doch so lange schlafe, habe ich mir nicht gedacht.

Ich setze mich auf meine Bettkante und strecke mich einmal ausgiebig, sodass ich danach aufstehe und mich auf die Suche nach Elias mache.

Ich öffne meine Zimmertür und höre, dass der Fernseher in unserem kleinen Wohnzimmer läuft.

Das Wohnzimmer ist in unserer Wohnung tatsächlich der kleinste Raum. Es steht gerade mal eine Kommode, auf der der Fernseher steht, und ein Sofa drin.

Für ein größeres Wohnzimmer hätten wir mehr Miete bezahlen müssen, aber das konnten wir uns beide nicht leisten.

Aber Elias und ich kommen auch hier richtig gut zurecht, denn die Küche ist auch nicht viel größer.

Ich tapse ins Wohnzimmer und erschrecke, als ich meinen Bruder auf dem Sofa sitzen sehe.

Sein Gesicht ist blutverschmiert, seine Lippe aufgeplatzt und er probiert gerade, seine Hände fachmännisch zu verbinden.

Da es aber so aussieht, als würden seine Hände schmerzen, ist es nur eher weniger erfolgreich.

"Was hast du denn gemacht", frage ich geschockt und setze mich neben ihn.

"Was glaubst du?", fragt er genervt und mit schmerzerfüllten Gesicht, als er den Verband wieder von seiner Hand löst, weil er nicht hält.

"Ich war bei Lennard und habe dem Wichser eine Lektion erteilt."

Ich hoffe, dass er schlimmer aussieht, denke ich mir, spreche meine Gedanken aber nicht aus. Das würde Elias' Stimmung wahrscheinlich nicht besser machen.

"Lass mich das machen", sage ich beruhigend und nehme ihn den Verband aus der Hand.

Elias lässt sich gegen die Sofalehne fallen und schaut mich an. Es sieht so aus, als würde sein Auge ein wenig blau werden.

Die beiden haben anscheinend alles gegeben.

"Das wäre nicht nötig gewesen", sage ich zu ihm, als ich anfange seine Knöchel zu verbinden.

Seine Hände sehen zum Glück nicht so schlimm aus wie sein Gesicht. Einzig die Knöcheln sind ein wenig aufgeschürft, aber das sollte bald wieder verheilt sein.

"Doch war es. Der Wichser hat dich bedrängt", schnauft er und blickt in die andere Richtung.

***

"Oh je", sagt Martin, "Habt ihr ihn eigentlich angezeigt?"

Ich schüttle mit dem Kopf. Elias hätte Lennard gerne angezeigt. Ich war aber dagegen. Ich weiß, dass das falsch ist, denn so wird solchen Typen nie das Handwerk gelegt, aber ich wollte einfach nicht nochmal über alles reden.

Das antworte ich auch Martin: "Nein, ich war dagegen. Ich wollte nicht noch einmal über alles reden." Er nickt.

Nach kurzer Zeit fragt er: "Willst du noch etwas trinken?" Doch ich verneine.

Kurz darauf bezahlt Martin unsere Getränke und wir verlassen das kleine Café. Auf der Straße zieht sich Martin sofort eine Kappe auf den Kopf.

Er will heute anscheinend lieber nicht erkannt werden.

"Hast du noch Zeit?", fragt Martin fast schon schüchtern, als wir kurze Zeit schweigend nebeneinander hergelaufen sind.

Ich ziehe mein Handy aus meiner Jackentasche und stelle mit erschrecken fest, dass es schon fast 18:30 Uhr ist.

Die Zeit ist wirklich wie im Flug vergangen, dabei hat es sich gar nicht so angefühlt.

"Ja, habe ich. Warum?"

Martin scheint erleichtert, dass ich noch nicht nach Hause gehen muss.

"Mir ist da gerade noch etwas eingefallen." Er grinst verschmitzt, doch auf Nachfrage möchte er mir nicht sagen, wo wir noch hingehen.

Martin führt mich direkt in die Richtung der Hochhäuser.

Die großen Bauten in Frankfurt sind einfach unglaublich.

Am besten bestaunen kann man sie, wenn man auf einer der unzähligen Brücken steht, die über den Main führen.

Doch wenn man erstmal direkt unter ihnen durch läuft, fühlt man sich plötzlich ganz schön klein.

"Nicht dein Ernst? Wir gehen auf den Maintower?", frage ich erstaunt, als wir vor dem besagten Wolkenkratzer stehen bleiben.

Ich war schon mehrmals auf der Besucherterrasse des Hochhauses, das mehrere Frankfurter Unternehmen beherbergt.

Aber wenn ich so zurückdenke, muss das letzte Mal schon länger hergewesen sein.

"Schlechte Idee? Hast du Höhenangst?", fragt Martin sofort, doch ich fange nur an zu lachen.

"Nein, die Idee ist super." Ich lächle ihn an. Martin pustet hörbar erleichtert Luft aus seiner Lunge aus.

Nur wenige Minuten später öffnen sich die Fahrstuhltüren, sodass wir auf die Besucherplattform in 200 Metern Höhe treten können.

"Ich war hier ewig nicht mehr", flüstere ich und stelle mich sofort an das Geländer.

Der Ausblick von hier oben ist einfach unglaublich. Vor allem wie wenn gerade die Sonne untergeht und alles in rot-orangenes Licht taucht.

Martin stellt sich neben mich. Wir sind tatsächlich alleine auf der Besucherplattform.

"Also gefällt's dir?", fragt er vorsichtig nach.

"Ja, ich hatte in den letzten Jahren irgendwie keine Zeit, mal wieder hier herzukommen."

Stillschweigend stehen wir am Geländer und schauen dem Sonnenuntergang entgegen.

Ich merke, wie Martin ein wenig näher zu mir rutscht und sich unsere Arme leicht berühren.

"Bist du häufiger hier?", frage ich Martin und schaue zu ihm herüber.

Er lächelt ein wenig. "Ja, hier kann man gut abschalten. Vor allem abends, weil kaum Leute hier sind. Und außerdem hat man einfach eine mega gute Aussicht."

"Das stimmt", flüstere ich. Die Sonne geht gerade am Horizont unter und schenkt uns ihre letzten Strahlen.

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