Kapitel 9

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(Pov. Harry)

Freitag morgens wurde ich, noch bevor ich das Schulgebäude betreten konnte, von Louis abgefangen. Normalerweise trafen wir uns immer erst zur Pause, weswegen ich wirklich überrascht war. „Los komm!“ meinte er statt einer Begrüßung und zog mich am Arm von der Schule weg. Stolpernd folgte ich ihm, bis wir vor einem kleinen, roten Auto zum Stehen kamen. Louis schnappte sich meinen Schulrucksack und warf ihn auf die Rückbank des Autos, bevor er mich auffordernd ansah.

„Was machst du?“ wollte ich sehr verwirrt wissen. „Wir fahren weg.“ antwortete Louis, als wäre es das Normalste der Welt. „Aber was ist mit der Schule?“ Ich war sehr unsicher, was das Ganze werden sollte. Wir konnten doch nicht einfach die Schule schwänzen. „Ach komm schon, das wird bestimmt lustig!“ versuchte mich Louis mit einem bettelnden Hundeblick zu überreden. Ich kaute auf meiner Unterlippe, während ich überlegte. Ich hatte noch nie geschwänzt, also würde das eine Mal schon nicht so schlimm sein, oder?

Schließlich gab ich nach und öffnete die Beifahrertür. Doch dann fiel mir noch etwas anderes ein. „Du hast auch wirklich einen Führerschein und kannst sicher fahren?“ fragte ich etwas misstrauisch. „Ich bin 18, Harry, und habe meinen Führerschein erfolgreich bestanden.“ erwiderte Louis lachend und hielt mir auffordernd die Autotüre auf. Seufzend gab ich mir einen Ruck und kletterte auf den Beifahrersitz. Einen Moment später hatte er auf der Fahrerseite Platz genommen und startete den Wagen.

Zu sagen, dass Louis sicher fahren konnte wäre gelogen, denn sein Fahrstil war sehr gewagt. Bei jeder Kurve krallte ich meine Hände in den Sitz und hoffte einfach, dass er nicht noch schneller fahren würde und unser Ziel nicht mehr weit entfernt war. „Du kannst dich entspannen, Harry. Wir sind aus der Stadt raus und haben es sogar überlebt.“ scherzte Louis, als er auf eine schmale Landstraße einbog, die zum Glück nicht kurvig war. „Ja, gerade so!“ beschwerte ich mich, doch ich löste meinen Klammergriff vom Sitz und entspannte mich etwas.

Irgendwann schaltete Louis das Radio an und Musik von The Fray tönte durch das Auto. Er sang laut mit, während er einen Arm aus dem Fenster lehnte. Ich betrachtete ihn von der Seite und ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus. Er sah so unbeschwert und glücklich aus, dass ich es nicht schaffte meinen Blick von ihm abzuwenden. „Sing mit, Harry!“ forderte er mich plötzlich grinsend auf. Zurückhaltend summte ich erst nur leise die Melodie, doch Louis gute Laune war so ansteckend, dass ich mich schließlich nicht mehr zurückhalten konnte und anfing ebenfalls mitzusingen. Dass sich unser beider Gesang ziemlich schief anhörte, war uns egal.

Nach fast zwei Stunden Fahrt, stoppte Louis das Auto auf einem Parkplatz in einer kleinen Ortschaft. Ich fragte gar nicht erst nach, was wir hier sollten, denn er würde mir ohnehin keine Antwort geben. Also folgte ich ihm einfach durch die schmalen Straßen des Ortes, die gesäumt waren von hübschen Häusern mit roten Dächern und bepflanzten Vorgärten. Ein Schotterweg führte uns zwischen einigen Bäumen über einen kleinen Hügel.

Sprachlos blickte ich auf das blaue Meer, dass sich endlos vor mir erstreckte. Schnell schlüpfte ich aus meinen Schuhen und Socken und rannte aufs Wasser zu. Der Sand fühlte sich weich unter meinen nackten Füßen an, der sanfte Wind strich durch meine Haare und der salzige Geruch des Meeres erfüllte die Luft. Ich erschauderte, als eine Welle meine Füße umspülte. Das Wasser war eiskalt, aber was sollte man auch anderes erwarten, schließlich hatten wir gerade Herbst.

Ich blickte über meine Schulter und sah Louis auf mich zu laufen. Als er bei mir ankam, warf ich mich in seine Arme und er stolperte überrascht ein paar Schritte zurück. „Danke, es ist wunderschön hier.“ hauchte ich, mich fest an ihn klammernd. Ich war bisher noch nie am Meer gewesen und ich war Louis dankbar, dass er mich hierher gebracht hatte. Auch wenn ich nicht wusste, warum er das alles für mich tat.

Nachdem ich mich aus der Umarmung gelöst hatte, spazierten wir nebeneinander den Strand entlang. Ich genoss die warme Sonne, die auf uns herunter schien und die Wellen, die in regelmäßigen Abständen unsere Füße mit kaltem Meerwasser umspülten. Es war zu kalt zum Schwimmen, aber schon allein der Anblick des riesigen, blauen Ozeans war atemberaubend.

Plötzlich schnappte sich Louis meine Hände und fing an sich im Kreis zu drehen. Ich lachte auf, als ich von ihm herumgewirbelt wurde. Allerdings wurde mir schnell schwindelig und so stolperte ich über meine Füße. Ich fiel in den weichen Sand und zog Louis, der mich noch immer festhielt, mit mir zu Boden. Wir rollten durch den Sand, bis wir einige Meter vom Wasser entfernt liegen blieben und noch immer ausgelassen lachten.

Erst als wir realisierten wie nahe wir uns eigentlich waren, verstummten wir. Louis lag halb auf mir und unsere Gesichter waren nur einige Zentimeter voneinander entfernt. Ich versank in seinen blauen Augen. Warum war mir nie aufgefallen wie wunderschön sie waren? Sein Blick huschte nur für den Bruchteil einer Sekunde zu meinen Lippen, doch ich bemerkte es trotzdem. Wollte er mich küssen?

Er lehnte sich immer weiter zu mir, doch noch bevor Louis Lippen auf meinen landen konnten, unterbrach ich den Blickkontakt und drehte meinen Kopf zur Seite. Ich spürte wie Louis sich aufsetzte und Abstand zwischen uns brachte. Ich fühlte mich schlecht ihn abzuweisen, aber ich konnte ihn nicht einfach küssen. „Ich bin nicht schwul.“ murmelte ich leise, denn ich hatte irgendwie das Gefühl mich rechtfertigen zu müssen. Meine Worte änderten jedoch nichts an der seltsamen Spannung, die in der Luft lag.

„Ist das wichtig? Tu doch einfach das, was sich für dich richtig anfühlt und was dich glücklich macht. Denk nicht immer so viel nach, Harry.“ Der Schmerz in Louis Stimme war nicht zu überhören. Er war seit wir uns kannten immer für mich da gewesen und hatte sich so viel Mühe gegeben, mir zu helfen und das einzige was ich tat, war ihn zu verletzten. Ich war noch nie verliebt gewesen und hatte überhaupt keine Erfahrung damit. Ich kannte diese Gefühle nur aus Büchern.

Ich versuchte alle Gedanken zu verdrängen. Es war nicht wichtig wie viel Erfahrung ich hatte und es war nicht wichtig, dass ich mich mit dem Thema Sexualität nie beschäftigt hatte. Aber Louis war wichtig, er war mir wichtig. Ich überbrückte den Abstand zwischen uns und bevor ich einen Rückzieher machen konnte, hatte ich schon meine Lippen auf seine gedrückt. Überrascht spannte sich Louis an, doch dann erwiderte er sanft den Kuss. Mein Herz pochte schnell in meiner Brust und ein Kribbeln breitete sich in meinem Körper aus, während sich unsere Lippen behutsam gegeneinander bewegten.

Als wir uns schließlich voneinander lösten atmeten wir beide schwer, doch ein strahlendes Lächeln zierte unsere Gesichter. „Wir müssen langsam fahren, sonst kommen wir viel zu spät zurück.“ meinte Louis und hielt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Doch statt sie danach loszulassen, verschränkte er unsere Finger ineinander. Hand in Hand schlenderten wir zurück über den Schotterweg, durch das kleine Dorf, bis zum Parkplatz.

Louis war Schuld daran, dass wir uns auf dem Weg drei Mal verliefen. „So viel zu deinem guten Orientierungssinn.“ lachte ich, als wir dann doch das Auto erreichten. „Ach sei doch leise.“ schmollte er, doch ich erwiderte nur schmunzelnd „Dann bring mich doch dazu.“ Ich war selbst überrascht von meinem plötzlichen Selbstbewusstsein. Louis zog mich ganz nah an sich und legte einen Arm um meine Hüfte. „Langsam wirst du frech.“ flüsterte er an meinen Lippen, bevor er sie mit einem Kuss verschloss. Ich seufzte auf und ließ meine Hand in seinen Nacken gleiten, um ihn noch näher heranzuziehen.

Bevor wir den Kuss weiter vertiefen konnten, löste sich Louis widerwillig von mir.. „So gerne ich das hier fortführen würde, müssen wir jetzt wirklich los.“ „Mhm“ murmelte ich nur und drückte ihm noch einen kurzen Kuss auf den Mundwinkel, bevor ich ins Auto stieg. Während der Fahrt lief leise Musik und Louis freie Hand ruhte auf meinem Oberschenkel. Wir redeten nicht viel, sondern genossen einfach die angenehme Stille und die Anwesenheit des Anderen. Louis hatte genauso wie ich ein glückliches Lächeln auf den Lippen und ich dachte über den heutigen Tag nach. Es war wirklich viel passiert. Ich war zum ersten Mal am Meer und bekam meinen ersten Kuss. Ich hätte mir beides definitiv nicht schöner vorstellen können.

Die Sonne ging schon unter, als der Wagen in der Einfahrt vor meinem Haus hielt. „Danke für heute und einfach alles.“ bedankte ich mich schüchtern und sah auf meine Hände. „Du musst dich nicht immer bedanken, Harry. Ich sollte mich dafür bedanken, dass du mich so glücklich machst.“ Ich errötete und fand nicht die passenden Worte, um etwas zu erwidern. Also beugte ich mich nach vorne und legte meine Lippen auf die seinen. Die Gefühle, die in diesem sanften Kuss lagen sagten mehr als es Worte konnten.

Heal my Heart (l.s.)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt