27. So fühlt sich sterben an

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Ich begann damit die Bahnen zu ziehen. Am Anfang kreisten meine Gedanken noch um alles mögliche. Doch je mehr Bahnen ich zurücklegte, desto weiter begab ich mich in eine Art Tunnel. Bei jedem Schwimmzug, den ich machte, wiederholte ich im Kopf die fortlaufende Zahl meiner bisher zurückgelegten Bahnen. Etwas anderes nahm ich garnicht mehr wahr. Als ich die 90. Bahn hinter mich gebracht hatte, achtete ich wieder mehr auf meine Umgebung. Erik ging die ganze Zeit immer am Becken auf und ab und beobachtete mich aufmerksam. So langsam musste ich anfangen, so zu tun, als würden meine Kräfte nachlassen. So schwer würde das nicht werden, denn ich merkte tatsächlich, dass langsam die Erschöpfung nach mir griff. Ich begann damit, mich bei der Wende immer etwas länger als vorher festzuhalten, um kurz zu verschnaufen. Das ließ Erik mir durchgehen. Daher begann ich nach der 95. Bahn damit, die Schwimmzüge etwas zu verlangsamen, doch das führte letztendlich dazu, dass Erik Phil seine Waffe an den Kopf hielt und mich dazu zwang, das vorherige Tempo wieder aufzunehmen.
"Du scheinst nicht begriffen zu haben, wer hier das sagen hat. Dafür kannst du nochmal zusätzlich 50 Bahnen schwimmen und wenn mir das nicht reicht, kommt da noch was dazu." schrie Erik. Ich fluchte innerlich. Aber es half nichts.
Ich hatte irgendwann aufgehört die Bahnen zu zählen. Es gab kein Ziel, auf das ich hinarbeiten konnte. Wenn ich mich dem vermeintlichen Ziel näherte, legte Erik nochmal was oben drauf. Ich war jetzt schätzungsweise bei der 210. Bahn. Meine Arme brannten und nach jeder Bahn, die ich zog, war ich mir sicher, ich würde die nächste nicht schaffen. Aber irgendwie schaffte ich sie doch. Und die nächste, die übernächste und die danach auch. Immer ein Schwimmzug nach dem anderen. Immer weiter. Einfach weiter. Ich bekam kaum den Kopf über Wasser, um Luft zu holen, da ich kaum noch Kraft in den Armen hatte. Irgendwann ging ich dazu über, 2-3 Schwimmzüge zu machen, ohne Luft zu holen. Das war eine kleine Erleichterung. Aber irgendwann wurde auch das zu anstrengend. Ich kämpfte mich mittlerweile von Schwimmzug zu Schwimmzug. Meine Lunge brannte. Ich hatte schon teilweise Wasser mit eingeatmet, weil ich den Kopf nicht mehr ganz über Wasser bekam. Ca. 4 Meter vor der nächsten Wende passierte es dann. Ich hatte plötzlich keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Ich konnte meine Arme nicht mehr bewegen und ebenso wenig meine Beine. Ich sank wie ein Stein in die Tiefe und es war mir egal. Wenn ich sterben würde, wären zumindest die Schmerzen vorbei. Ich schloss die Augen und dachte an Phil. Mein Herz schrie. Ihn würde ich für immer verlieren.
In einem Anflug von Trotz mobilisierte ich doch nochmal meine Kräfte und schwamm zwei Züge nach oben. Doch es reichte nicht, um über Wasser zu gelangen und Luft zu holen. Mein Blick glitt in die Ferne. Phil würde es verstehen. Er hatte gesehen, wie ich gekämpft hatte. Er würde weiterleben. Auch ohne mich.
Meine Lunge brannte mittlerweile, weil ich schon so lange unter Wasser war. Doch ich weigerte mich, das Wasser einzuatmen. Wenn ich das täte, wäre es endgültig vorbei. Aber vorbei war es doch sowieso. Oder? Für mich gab es hier keinen Weg heraus. Erik hatte es gezielt auf die Spitze getrieben. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Phil und Florian hätten mich längst gerettet, wenn sie gekonnt hätten. Doch sie waren gefesselt. So sollte es also zu Ende gehen. Ich hatte mich noch nie mit dem Thema Tod auseinander gesetzt. Warum auch? Ich war ja gerade mal 19 Jahre alt. Wer starb schon in diesem Alter?
'Du. Du stirbst jetzt' meldete sich dann mein inneres Ich zu Wort. Schon merkwürdig, welchen Gedankengängen man folgte, während man im Begriff war zu sterben.
Ich merkte, wie das Leben aus mir heraus lief. Die Panik griff nach mir, doch ich wollte nicht mit Angst im Herzen sterben. Ich dachte an Phil. Holte mir sein Bild vor mein inneres Auge und versuchte, mich nochmals in die Situation unseres ersten Kusses einzufühlen. Und mit diesem Gefühl im Herzen, ließ ich los. Ich öffnete meinen Mund, um dem Drang meiner brennenden Lungen nachzugeben und das kühle Wasser zu begrüßen, das Linderung versprach.

Der Amoklauf, der mein Leben veränderteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt