Ängstlich blickte ich die Treppenstufen hinauf. Durch die Scheibe des kleinen Fensters neben der Treppe konnte ich den dunklen Himmel sehen. Er war eine einzige schwarze Front, die sich geradewegs über das Waldstück legte. Die letzten Wolken zogen wie zerrissene graue Schleier am Fenster vorbei. Und obwohl ich mich im Haus befand, konnte ich fast spüren, wie der Wind draußen zunahm. Er heulte binnen Sekunden auf und pfiff um die Hausecken.
Ich warf einen Blick zurück in den Flur und versuchte, die Angst, die mich überkam, auszumerzen. Es war nur ein Sturm. Morgen würde ich siebzehn Jahre alt werden. In Anbetracht dessen verhielt ich mich absolut lächerlich.
Ein lauter Knall ertönte, ein greller Blitz erleuchtete den Himmel. Das Licht im Haus schien zu flackern, die Bäume draußen neigten sich mit dem Wind. Das Summen der Glühbirne über meinem Kopf verleitete mich dazu, den Lichtschalter zu betätigen. Das Licht im Flur ging aus. Kurz darauf hörte ich ein Knallen und schließlich das Klicken des Sicherungskastens. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich sah mich ein letztes Mal im Flur um. Der Regen peitschte gegen das kleine Fenster. Wie auf Kommando ertönte ein weiterer Donnerschlag. Mein Puls stieg an. Ich hätte mich am liebsten unter irgendeiner Bettdecke versteckt, um abzuwarten, bis dieses schreckliche Unwetter vorüber war. Es war mir absolut schleierhaft, woher meine plötzliche Furcht kam. Sogar meine Knie schlotterten. Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas anders war als normalerweise. Es war, als würde etwas schreckliches um mich herum geschehen, aber ich wusste einfach nicht was.
Verzweifelt dachte ich an meine Tante. Elisabeth war jemand, den man wahrscheinlich nicht einmal durch eine Pistole einschüchtern konnte. Dass sie bei solch einem Unwetter nach Hause laufen würde, war trotzdem unwahrscheinlich. Vermutlich würde sie bei ihrer Freundin bleiben, bis es wenigstens zu regnen aufhörte. Wenn ich Glück hatte, wäre das innerhalb der nächsten zwei Stunden.
Zwei Stunden. Zwei Stunden konnten so lang sein, wenn man auf etwas wartete.
Ich trat näher an die Haustür heran. Mit zitternden Händen griff ich nach der Klinke. Als ich das kalte Metall berührte, setzte mein Herz für einen Augenblick aus. Ich fasste Mut. Meine Finger zitterten, doch ich gewann schnell den Kampf um die Kontrolle. Die Tür schwang auf, und ich trat hinaus auf das glitschige Eingangspodest. Sofort peitschte mir der Sturm kalten Regen ins Gesicht, der mich abkühlte, als hätte ich in ein Eisfach gefasst.
Ich zuckte zusammen, als ein weiteres Grollen ertönte. Eisig wehte mir der Wind entgegen, sodass mir selbst in meinem Pullover kalt wurde. Eine Gänsehaut breitete sich von meinem Nacken bis zu meinen Füßen aus. Ich zitterte. Mir war übel, und meine Lider flatterten.
Hastig machte ich einen Schritt zurück, sodass ich mich wieder im Hausflur befand. Intuitiv ertastete den Lichtschalter. Meine Hand war klamm, doch ich drückte den Schalter energisch. Nichts geschah. Es blieb stockdüster im Haus. Plötzlich fiel mir das Klicken des Sicherungskastens wieder ein. Stromausfall. Ich verschloss die Haustür.
Ein greller Blitz durchleuchtete das düstere Haus. Meine Atmung ging unregelmäßig, mein Puls stieg in schwindelerregende Höhen. Ich schielte nach links und rechts. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun konnte.
Plötzlich hörte ich schwere Schritte. Das war garantiert nicht meine Tante.
Dann spürte ich, wie mich jemand kräftiges am Arm packte. Ich keuchte auf und begann, mich zu drehen und zu winden. In der Dunkelheit knallte ich mit dem Kopf gegen die Haustür. Für einen Moment sah ich Sterne, doch dann riss ich mich panisch los. Notgedrungen sprintete ich die Treppe hinauf. Mit dem Fuß blieb ich an einer knarrenden Treppenstufe hängen, sodass ich mir die dünne Socke aufriss. Die Haut an meinem Fuß brannte wie Feuer, aber ich lief weiter. Mit der Faust schlug ich gegen die erste Tür im Dachgeschoss. Sie schwang auf. Tante Ellis Gästezimmer mit der geblümten Tapete erstreckte sich kahl und staubig vor mir.
Das rostige Bettgestell stand unberührt in einer Ecke. Ich drückte mich in den Wandschrank auf der gegenüberliegenden Seite. Meine Wangen waren erhitzt, die Luft in diesem Wandschrank war trocken und es roch nach alter Dame.
Ich erschauderte bei jedem Donnerschlag. Es breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Rücken aus und ich machte unwillkürlich ein Hohlkreuz, als hätte mich soeben der eiskalte Duschstrahl erwischt. Auf meiner Stirn bildeten sich feine Schweißperlen. Der Schall des Donners wurde leiser und der Wind heulte laut auf, während die Zweige der Bäume ächzten.
In meinen Ohren rauschte das Blut. Das Adrenalin betäubte den schrecklichen Schmerz an meiner Ferse. Ich bemühte mich, meine Atmung zu kontrollieren, langsamer und leiser zu atmen, mich voll und ganz auf mich selbst zu konzentrieren. Das Unwetter würde vorübergehen. Dieser Tag würde nicht mein letzter sein.
Mit gefalteten Händen kauerte ich hinter geschlossenen Schranktüren. Ein Knarren ließ mich hellhörig werden. Das konnte nur die Treppe sein. Jemand befand sich auf direktem Weg zu mir ins Dachgeschoss! Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich biss die Zähne zusammen, während ein lautes Grollen ertönte. Dann sah ich, wie sich das Licht, welches durch die Ritzen der Schranktüren fiel, augenblicklich verdunkelte. Düster und tiefschwarz legte sich ein Schatten über den Schrank. Meine Atmung stockte, meine Kehle schnürte sich zu, und ich versuchte, keinen noch so kleinen Ton mehr von mir zu geben. Die Minuten zogen sich zäh in die Länge und der Sauerstoffmangel verschleierte mir allmählich die Sicht.
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Elena - Dem Bösen so nah
Mystery / ThrillerElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...