Wir wohnten in demselben Viertel wie Elena. Häuser mit roten Steinen und Ziegeln reihten sich aneinander, dazwischen waren hübsche, sehr gepflegte Gärten. Hecken oder Zäune umrahmten die Grundstücke bis zur Auffahrt. Hier standen Kleinwagen, ab und an auch Geländewagen, jedoch keine teureren Modelle.
Ich winkte unserer Nachbarin zu, die gerade ihre abgeblühten Stauden schnitt.
Sie strahlte mich an und winkte zurück. »Freust du dich schon auf die Feiertage?«
»Auf die Feiertage warte ich schon das ganze Jahr!«, rief ich.
Lachend kniete sie sich in ihr Beet und widmete sich wieder ihren Stauden.
Ich verharrte in meiner Bewegung. Wenn ich die Straße hinuntersah, konnte ich die Baustelle erkennen, für die sie drei große Felder gerodet hatten, auf denen im Frühling immer der Raps geblüht hatte.
Einige unserer Nachbarn hatten versucht, gegen den Bau von weiteren Mehrfamilienhäusern zu demonstrieren. Keiner von uns wollte, dass die Menschen aus dem ärmeren Viertel zu uns herüberkamen. Sie brachten Unruhe, sobald sie die Grenze überquerten.
Die »Grenze« war nach all den Jahren deutlich erkennbar. Das Kopfsteinpflaster auf unserer Seite war gepflegt. Der Asphalt war eben. Die sandigen Straßenränder waren geharkt, das Unkraut bis zu einer unsichtbaren Linie gezupft.
Dahinter war das blanke Chaos zu erkennen. Graffiti wohin man sah, Bierdeckel und Glasscherben auf dem kaputten Asphalt. Alles erschien trist und farblos.
Hinter zurückgezogenen Gardinen lebten Menschen in schäbigen Mehrfamilienhäusern, teils im vierten Stock mit rissigen Wänden und zersplitterten Fenstern. Sie hatten einen eigenen Supermarkt bei sich, doch hin und wieder sah man diese Leute auch bei uns einkaufen. Viele machten einen großen Bogen um sie, als könnte das Leben in Armut ansteckend sein.
Ich wusste nicht genau, wie es dazu gekommen war, dass sich unsere Stadt so gespalten hatte. Das war noch vor meiner Geburt geschehen. Mir war von klein auf strikt verboten worden, das ärmliche Viertel zu betreten. Am liebsten wäre es meinen Eltern gewesen, ich hätte gar keine Fragen darüber gestellt, wieso man im Fernsehen nur negatives über die Menschen dort drüben hörte.
Ständig las man in Zeitungen von Jugendlichen, die Molotowcocktails warfen. Sie schienen zu rebellieren oder vielleicht kannten sie auch einfach keine Regeln.
Meine Mutter hatte sie als wilde Tiere bezeichnet. Vielleicht waren sie das auch. In der Schule benahmen sich Mitschüler aus jenem Viertel auffällig. Sie prügelten sich gerne und einige führten einen unausgesprochenen Krieg mit uns. Dabei kannten wir einander privat gar nicht.
Nick kam von dort drüben, wo nun weitere Häuser gebaut wurden. Ich hatte ihn vor Monaten schon über die Grenze gehen sehen, ohne zu wissen, dass er ein Freund von Tobias war, geschweige denn seinen Namen zu kennen. Ob er wohl dabei war, wenn dort drüben mal wieder in einer Kneipe so laut gefeiert wurde, dass ich es in meinem Zimmer hören konnte?
»Schatz, was machst du denn da?« Meine Mutter lief auf mich zu.
Sofort riss ich mich von dem Anblick der Baustelle los und setzte mich in Bewegung.
»Ich möchte noch mit deiner Schwester einkaufen fahren. Daniel und du könnt euch das Essen von gestern aufwärmen. Ist das in Ordnung?«, fragte meine Mutter, nachdem sie mir zur Begrüßung einen Arm um die Schultern gelegt hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, ist okay. Was wollt ihr denn kaufen?«
»Gardinen.«, antwortete sie.
Schmunzelnd blickte ich auf den Asphalt. Wenn sich meine Schwester und ihr Freund nicht einig wurden, war die Notlösung oft, unsere Mutter zu Rate zu ziehen.
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Elena - Dem Bösen so nah
Misterio / SuspensoElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...