Kapitel 1

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Elena

Wenn ich mich umdrehte, blickte ich in feindselige Augen. Mich taxierende, eisblaue Augen, die stets auf mich gerichtet waren, wann auch immer ich hinsah. Diese Augen gehörten meiner Mitschülerin. Einer von vielen, die mich hassten. Eine von denen, die über mich tuschelten. EINE VON DENEN, DIE MIR DAS LEBEN ZUR HÖLLE MACHTEN.

Ich atmete tief durch und bemühte mich, das Druckgefühl in meiner Brust unter Kontrolle zu bringen. Ebenso wie meinen schmerzenden Magen, der sich unaufhörlich drehte und dafür sorgte, dass mir die Ernsthaftigkeit meiner Lage wieder bewusst wurde.

Für einen Moment schloss ich die Augen. Ich wünschte, ich könnte aus dieser Situation fliehen. Bloß raus hier. Mir mein Leben zurückholen. Die Fassade einreißen, hinter der ich meine Träume versteckte, weil ich wusste, sie beobachteten mich dabei, wie ich versuchte, diese in die Realität umzusetzen. Und sie täten alles, um sie mir zu zerstören. Dafür wäre ihnen kein Preis zu hoch.

Wieder atmete ich tief durch. Kälte durchlief meinen Körper. Bilder von zerknickten Plakaten und meiner im Papierkorb liegenden Brotdose kamen mir in den Sinn.

Luft holen, Elena. Lass sie nicht sehen, wie du um Luft ringst. Schenk ihnen nicht das Vergnügen, dabei zu sein, wie du im Klassenraum erstickst. Falls sie dich kleinkriegen wollen, müssen sie ihre mageren Finger schon selbst um deinen Hals schlingen und dich würgen, bis —

Ich schlug die Lider auf. Kurz brannten meine Augen, doch sie gewöhnten sich verhältnismäßig schnell an das grelle Licht aus den Neonröhren. Erschöpft guckte ich zum Fenster. Die Bäume wiegten sich im Wind. Laub wehte über den Schulhof. Die meisten Blätter waren bereits braun und matschig, und der Kies, der zu den Fahrradständern führte, war von Pfützen gesäumt. Ein typisches Novemberwetter.

Ich richtete meinen Blick auf unsere Lehrerin Frau Bach, die bis gerade eben noch in ihrer braunen Ledertasche gewühlt hatte.

»Kann mir irgendjemand von Ihnen sagen, welche Erzählperspektive der Autor dieser Lektüre gewählt hat?« Frau Bach legte ihr Buch ab, nahm sich ein Stück Kreide vom Lehrerpult und sah jeden ihrer Schüler der Reihe nach an. Es war erstaunlich still im Klassenraum geworden.

»Das haben Sie in der siebten Klasse gelernt.«, sagte Frau Bach mit Nachdruck. In ihrer Stimme schwang ein ärgerlicher Unterton mit. »Zur Erinnerung: Sie befinden sich in der Oberstufe.«

Als niemand etwas sagte, hob ich schließlich meine Hand. Mein Herz bebte, als würde man mich jede Sekunde aus dem Flugzeug stoßen. Kein Scherz. So sah mein Leben aus. Jeden verdammten Tag aufs Neue. Und meine Mitschüler, bald Erwachsene, fanden es amüsant, zuzugucken. So, als wäre ich ein ausgestelltes Tier im Zoo. Ein Schimpanse mit Kopf einer Katze. Eine Giraffe gestreift wie ein Zebra.

Reiß dich zusammen.

»Elena« Frau Bach nickte mir auffordernd zu. »Helfen Sie Ihren Mitschülern auf die Sprünge.«

»Der Autor hat den auktorialen Erzähler gewählt.«, sagte ich leise.

Hinter mir konnte ich das Aufstöhnen eines Mitschülers hören.

»Exakt. Und was ist der auktoriale Erzähler?« Frau Bach lächelte mich entzückt an.

»Es ist der allwissende Erzähler. Er weiß alles, was die Charaktere getan haben, was sie denken und wie sie handeln werden.«, antwortete ich schüchtern und spürte, wie mir schon wieder der Angstschweiß ausbrach.

Frau Bach kehrte dem Kurs den Rücken zu und schrieb etwas an die Tafel.

»Streber«, konnte ich jemanden flüstern hören. Ich versteifte mich. Tränen schossen mir in die Augen und ich blinzelte sie weg.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt