Mit pochendem Herzen stand ich an dem Waschbecken in der Mädchentoilette. Meine Hände waren nass, und klebrig von der schäumenden Seife. Ich hielt sie unter das kalte Wasser, während ich nachdenklich mein Spiegelbild anstarrte.
Tiefe Ringe zeichneten sich unter meinen blauen Augen ab. Meine dunkelblonden Haare waren zu einem Zopf an meinem Hinterkopf geflochten. Einige feine Strähnen fielen mir ins Gesicht, und ich klemmte sie mir hinters Ohr, bevor ich nach den rauen Papiertüchern griff und meine Hände abtrocknete.
Mir ging nicht mehr aus dem Kopf, wie leise Krista mich nach der Taschenuhr gefragt hatte. Wo war die Uhr? Konnte Elisabeth ihre Uhr zu Hause gelassen und in eine Kommode gelegt haben? Hatte der Pathologe die Taschenuhr an sich genommen? Oder hatte er sie meinem Vater gegeben?
Ich warf das Papier in den Mülleimer aus Draht, der an der Wand unter einem alten Föhn hing. Kurz betrachtete ich das labile Plastik des Föhns. Er stammte noch aus der Zeit, in der dies die Toilettenräume für die Sporthalle gewesen waren. Irgendwann hatte die Schule endlich genug Geld zusammengehabt, und jetzt hatten wir im Untergeschoss ganz neue Umkleideräume für die Sporthalle. Ich rang mich dazu durch, meinem Spiegelbild ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen.
»Du schaffst das.«, flüsterte ich. Glaubwürdig sah es zwar nicht aus, aber ich beließ es dabei und verließ die Toilettenräume. Vor mir erstreckte sich ein langer Flur, der direkt in die Aula führte. An den Wänden lehnten Kulissen für die Theater- Arbeitsgemeinschaft. Sie waren größtenteils aus Pappe gebastelt und mit auffälligem Glitzer verziert. Jasmin hatte früher oft bei den alljährlichen Theateraufführungen mitgespielt. Mittlerweile ging sie lieber jeden zweiten Tag in die Stadt. Nach den letzten Sommerferien hatte sie sich besonders verändert. Ihr Stil war erwachsener geworden, ihre Meinung hatte sich gefestigt. Manchmal fragte ich mich, ob wir uns heute noch angefreundet hätten. Wahrscheinlich nicht.
»Hey«, hörte ich jemanden sagen. Es war Jasmins Stimme. Sie überholte mich und blieb vor mir stehen. »Du wirst nicht glauben, was wir beide heute machen!«
»Heute?«, hakte ich skeptisch nach.
Jasmin grinste bis über beide Ohren. »Ich habe etwas organisiert. Es wird gigantisch, und du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir!«
Sie wedelte mit ihrem Planer in der Luft herum. Die Freude rief ein wunderbares Leuchten in Jasmins braunen Augen hervor, sodass es mir fast noch schwerer fiel, ihr zu sagen, dass ich keine Lust auf eine Party oder etwas ähnlich anstrengendes hatte. Nicht, nach dem Tod meiner Tante. Nicht, nachdem ich Elisabeths Schwester kennengelernt hatte.
Ich öffnete meinen Mund, doch Jasmin kam mir zuvor.
»Nein, sag es nicht.« Sie fasste sich an den Kopf.
Irritiert sah ich Jasmin an.
»Du wirst zu deiner Geburtstagsparty kommen, sonst ...« Jasmin starrte mich lächelnd an, »Sonst muss ich allen sagen, dass die Party nicht stattfindet, und diese Peinlichkeit willst du mir doch sicher ersparen, oder?«
Erschöpft blickte ich zu Boden.
»Komm schon, Partys muss man genießen.«, versuchte sie es erneut. Ihre Stimme war zuckersüß. »Wir suchen dir ein Kleid raus, das einfach umwerfend aussieht. Bitte, Elena. Das wird toll, versprochen.«
Natürlich wollte ich nicht, dass sie sich schlecht fühlte. Ich wollte eine unangenehme Funkstille vermeiden, ich wollte meiner besten Freundin nicht vor den Kopf stoßen, und trotzdem war ich nicht bereit dazu, auf eine Feier zu gehen.
Jasmin atmete tief durch. »Elena«, sagte sie zaghaft.
»Ich kann nicht einfach weitermachen und auf eine Party gehen, so, als wäre nichts gewesen.« Meine Stimme wurde brüchig, »Tut mir leid.«
»Wie meinst du das? Du kannst nicht auf eine Party gehen? Du willst es nicht, hab ich recht?« Jasmin zwang sich dazu, ihr Lächeln zu halten. Nun wirkte es bloß noch gekünstelt, ohne auch nur ein Fünkchen ehrlichem Glücksgefühl dahinter.
Ich stöhnte auf. »Dann will ich eben nicht!«, fuhr ich sie an und spürte sogleich, wie der Drang in mir aufstieg, alles wieder in Ordnung zu bringen.
»Du kannst mich nicht die Party absagen lassen.« Jasmin umklammerte ihren Planer so fest, dass ihre Handknöchel nur noch weiß aussahen, »Du hast doch Geburtstag, das kannst du nicht einfach ... von dir wegschieben.«
Ich hatte das Gefühl, gleich zu platzen. »Mein Geburtstag war gestern, Jasmin.«
Ihr Lächeln verblasste. In ihren Augen sah ich Verwirrung, und schließlich blitzte die Wut in ihnen. Alles, was gleich aus Jasmin hervorsprudeln würde, war nicht gut für unsere Freundschaft, für mich und erstrecht nicht für sie selbst. Jasmins Temperament konnte wundervoll sein, aber nun hatte ich viel eher Angst vor dieser ungeheuren Energie, die unkontrollierbar in ihr brodelte.
»Bis nachher.« Ich machte kehrt und lief durch die Mensa hinaus aufs Schulgelände, wo ich erstmal tief durchatmete.
Mir tat weh, wie unser Gespräch verlaufen war. Auch die Stille, die sich mit einem Mal einstellte, zerrte an mir. Am liebsten wäre ich umgedreht, um mich für meine eilige Verabschiedung zu entschuldigen, doch dafür war ich viel zu stur.
Ausgerechnet Tobias mit seinen Freunden besetzte die Bank vor dem Haupteingang, auf die ich mich hatte setzen wollen. Er hob seinen Kopf, obwohl er dies eigentlich nie tat, wenn er mit seinen Freunden abhing. Kaum war ich an ihnen vorbei, sah ich ihn im Augenwinkel von seinem Platz aufstehen.
»Elena!«
Ich hielt abrupt inne. Das war eindeutig neu. Normalerweise war ich Luft für seine Freunde und ihn.
»Was gibt's?«, fragte ich ein wenig irritiert, als ich mich meinem besten Freund zuwandte.
Tobias blieb vor mir stehen. »Sehen wir uns nachher noch?«
Seine Haare waren wieder streng mit Gel zurückgekämmt. Er trug eine dunkelblaue Jeans und einen weißen Pullover, der seine meerblauen Augen noch intensiver betonte.
»Das geht heute nicht. Ich will zu dem Haus meiner Tante gehen.«, antwortete ich verspätet.
»Lass uns gemeinsam dorthin gehen.« Tobias suchte meinen Blick.
Ich wich ihm aus und zuckte mit den Schultern. »Die ominöse Schwester meiner Tante ist aus dem Nichts aufgetaucht, also kann es sein, dass wir sie dort treffen. Ich will dich nicht in eine unserer merkwürdigen Familiensituationen verwickeln.«
Mein bester Freund schüttelte lachend den Kopf.
»Deine Familie ist mit Sicherheit weniger schlimm als meine.«, sagte er. Es lag etwas herausforderndes in Tobias Tonfall. »Komm, sag einfach ja. So schwierig ist das nicht.«
Für einen Augenblick starrte ich auf meine dreckigen Schuhe, dann schlich sich ein sarkastisches Lächeln auf meine Lippen. »Dich wird man nie wieder los, oder?«
Tobias trat einen Schritt zurück, während er sich lachend an den Schläfen berührte.
»Nie wieder«, bestätigte er. »Ich hole dich nach der Schule ab. Welcher ist dein letzter Kurs?«
»Kunst ... Im Obergeschoss bei der großen Glaswand, wo die Gruppentische sind.«, erklärte ich und machte währenddessen wegweisende Gesten, die Tobias, seinem Blick nach zu urteilen, vermutlich nicht deuten konnte.
Er nickte trotzdem. »Das finde ich schon.«
Wir verabschiedeten uns mit einer kurzen Umarmung, bevor Tobias wieder zu seinen Freunden ging.
Dankbar, dass er mir keine Fragen gestellt hatte, auf die ich keine Antworten gehabt hätte, lächelte ich. Vielleicht würde der Nachmittag doch ganz nett werden.
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Elena - Dem Bösen so nah
Misteri / ThrillerElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...