Kapitel 44

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Der Schultag war anstrengend. Trotzdem sagten wir unseren Eltern, dass wir bei Freunden übernachten wollten und trafen uns am späten Nachmittag wieder in dem Haus von Elenas verstorbener Tante. Gegen Abend schoben wir Tiefkühlpizzen in den Backofen. Tobias drehte die Heizungen ein wenig auf und es wurde bald darauf erstaunlich warm im Haus. Die alten Holzbalken und die Sprossenfenster taten ihr übriges, sodass es in der Küche richtig gemütlich wurde.

»Vegetarisch?« Tobias hob das Backblech an und sah fragend in die Runde.

Ich ließ mir von ihm ein Stück Pizza auf den Teller legen.

»Hast du den Mann, der dich entführt hat, mal ansehen können?« Ich pikste mit der Gabel eine Peperoni auf, die von meinem Pizzastück gefallen war.

Elena hob mühsam den Kopf. »Er hat immer nur schwarze Pullover getragen und sich die Kapuze ins Gesicht gezogen, damit ich ihn nicht erkenne. Außerdem war es echt dunkel da unten.«

Ich biss von der Pizza ab.

»Kanntest du den Mann eigentlich?« Tobias sah Nick an.

»Nur weil ein Typ aus meinem Viertel kommt, kenne ich ihn nicht automatisch.«, antwortete Nick schlecht gelaunt.

Tobias räusperte sich. »Ich dachte auch eher, dass du ihn vielleicht kennst, weil er ein Straftäter ist und-« Er stockte.

Nicks Gesicht wurde kreidebleich. Sein beunruhigter Blick streifte mich.

»Na ja, ich meine, jemand der solche Straftaten begeht, der muss doch schon früher auffällig gewesen sein. Vielleicht hast du ihn mal gesehen, wie er jemanden überfallen hat oder ...«, versuchte Tobias es erneut.

Ich guckte abwartend zu Nick. Spannungen lagen in der Luft. Vielleicht sollten Elena oder ich einschreiten und die Jungs ablenken, bevor noch irgendetwas geschah, was sie später bereuen würden.

Zu meiner Überraschung jedoch blieb Nick ruhig. Seine Gesichtszüge entspannten sich. »Nein, sorry. Ich kenne ihn nicht.«, sagte er. »Soweit ich es jedenfalls von den Bewegungen oder dem Körperbau her beurteilen kann.«

»Schon gut.« Elena aß den knusprigen Rand ihrer Pizza und schob dann ihren Teller zu Tobias rüber, »Gibst du mir noch etwas von der mit Käse?«

Wir redeten über die Schule und die Abschlussprüfungen im kommenden Frühjahr. Tobias und ich räumten das Geschirr ab und stellten es in die Spüle. Danach unterhielten wir uns für einige Zeit über unsere Pläne für den Sommer. Es fühlte sich fast so an, als wäre dies ein ganz normales Gespräch in einem ganz normalen Haus.

Nach einer Weile ging Nick nach draußen. Ich nahm mir das Spülmittel und begann, das Backblech abzuwaschen. Elena nahm sich ein frisches Geschirrtuch aus dem Schrank, um mir zu helfen, doch Tobias hielt sie zurück.

»Lies das«, sagte er vorsichtig. Er drückte seiner besten Freundin den Brief in die Hand, den ich in einer der Küchenschubladen gefunden hatte.

Elena nahm den Brief in die Hand. »Was ist das?«, wollte sie mit zittriger Stimme wissen. Das sie bereits eine leise Vorahnung hatte, worum es sich handelte, war ihr anzusehen. Ebenso, wie sehr sie sich wünschte, damit falsch zu liegen. Es zerriss mir das Herz, aber ich konnte absolut nichts für sie tun.

»Setz dich und lies dir alles durch.« Tobias atmete tief durch, »Lass dir Zeit.«

Elena sank auf einen der Küchenstühle. Das Briefpapier raschelte zwischen ihren Fingern. In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Ob es unserer Mutter auch so nahe gegangen war, nichts zutun und nur zuzusehen? Warum hatte sie dann nicht endlich mal etwas gesagt? Sie hatte immerhin die Option gehabt. Ganz im Gegensatz zu Tobias und mir. Wir konnten Elena nicht abnehmen, das Testament ihrer Tante zu lesen. So sehr wir sie auch beschützen wollten, es ging einfach nicht.

Irgendwann war ich fertig mit dem Abwasch. Das saubere und nach Spülmittel duftende Backblech und ein paar Gläser, die nicht in den Geschirrspüler sollten, stapelten sich auf einem Handtuch, das auf der Arbeitsfläche ausgebreitet war. Tobias nahm sich das Geschirrtuch von Elena und begann langsam abzutrocknen. Ich ging unterdessen aus der Küche raus, um Luft zu holen.

»Was habt ihr sonst noch im Haus gefunden?«, hörte ich Elena fragen.

Tobias antwortete ihr. Vermutlich erzählte er die ganze Geschichte von Anfang an.

Ich nahm mein Smartphone aus der hinteren Hosentasche und scrollte über den Bildschirm. Fotos von früher begegneten mir. Ebenso die neusten Mitteilungen von den sozialen Netzwerken bei denen ich angemeldet war. Seufzend steckte ich das Handy zurück in meine Tasche.

Die Haustür ging auf und Nick betrat den Flur. Er zog sich die dreckigen Sneakers aus. »Redet er mit Elena?«, fragte Nick leise.

»Ja, schon seit einer halben Stunde.« Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand, »Wo warst du?«

»Die Beine vertreten.«, entgegnete Nick.

»Das hat mein Opa auch immer gesagt.« Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Nick sah mich schweigend an. Es lag etwas sanftes in seinem Blick. Vielleicht auch ein Hauch von Reue oder Besorgnis. Ich konnte es kaum deuten.

Nick wandte sich ab. Er zog sich die Jacke aus. Sein Pulloverärmel rutschte dabei hoch. Ein Bluterguss zeigte sich an Nicks Handgelenk, aber viel größere Sorgen machten mir die feinen, schwarzen Linien, die seine Haut zierten. Abrupt schaute ich ihm ins Gesicht. Ich hatte nicht gewusst, dass Nick ein Tattoo hatte.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt