Im TV-Schrank fanden wir nichts weiter als eine alte Kassette und mehrere Zeitschriften. Das untere Fach des Schrankes war leer.
»Das bringt uns überhaupt nicht voran.«, stellte Nick fest und setzte sich auf den Fußboden.
»Hast recht« Ich tat es ihm gleich, »Kann ich dich etwas fragen?«
Nick zuckte die Achseln. »Meinetwegen«
»Wie war das für dich, als du deine Eltern verloren hast?«, fragte ich sanft.
Erst guckte Nick mich nachdenklich an, doch dann senkte er seinen Blick. »Beschissen«, sagte er. In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verletzlichkeit mit.
Ich winkelte meine Beine an. »Mein Vater ist auch tot.«, erzählte ich, während ich meine Schuhe eingehend betrachtete. Der Schmutz an den weißen Rändern der Sohle war wie eingebrannt. »Hattest du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern?«
»So lange habe ich sie nicht gekannt.« Nick sprach so leise, dass ich es kaum hören konnte, »Manchmal frage ich mich trotzdem, ob sie von mir enttäuscht wären, könnten sie mich jetzt sehen.«
In mir kam tiefes Mitgefühl auf. Offensichtlich stellten Nick und ich uns ähnliche Fragen über unsere Familien. Antworten würden wir beide nicht bekommen.
»Sie wären nicht enttäuscht.«, sagte ich.
Nick stützte seine Ellbogen auf die angewinkelten Knie. »Das kannst du nicht wissen.«
»Es gibt schlimmere Menschen als dich.«, erwiderte ich nebensächlich.
Jetzt schaute er mich forschend an. Hätte ich bloß nichts gesagt. Hoffentlich würde Nick nicht nachfragen, was ich gemeint hatte.
»Hat dir mal jemand erzählt, wie deine Eltern waren?«, lenkte ich ab.
»Eine Nachbarin, bei der ich nach ihrem Tod gewohnt habe. In unser Haus konnte ich ja nach dem Feuer nicht zurück.«, antwortete Nick. »Mein Vater war Informatiker.«
»Oh, das ist cool.« Ich lächelte zum ersten Mal.
Nick sah mich schulterzuckend an.
Irgendwie hatte ich mir immer vorgestellt, dass jemand aus dem anderen Viertel - jemand wie Nick - eine Mutter hatte, die am Küchenfenster rauchte und einen Vater, der sturzbetrunken in einer Kneipe herumhing. Vielleicht noch eine Schwester mit platinblonden Haaren, pinkfarbenen Lippen und blauem Lidschatten. Das sie Geld vom Staat bezogen, keinen vernünftigen Beruf hatten ... ja, wahrscheinlich sogar asozial waren.
Dabei war mein Vater doch derjenige, der abends sternhagelvoll war.
»Hast du eine Lieblingsfarbe?«, wollte ich wissen.
Nick lehnte den Kopf gegen die Sofalehne. »Wenn schwarz als Farbe zählt, dann ja.«
»Klar, schwarz ist schön.«, sagte ich.
Nick schaute an sich herunter. Er trug fast ausschließlich schwarz. Schwarz an den Schuhen, eine schwarze Hose mit zerrissenen Knien und auch sein Pullover mit den großen Taschen hatte einen Schriftzug in dieser Farbe.
Wir sahen einander in einvernehmlicher Stille an. Merkwürdig, dass ausgerechnet Nick und ich in diesem fremden Wohnzimmer waren und miteinander redeten. Noch heute Vormittag wäre ich ihm niemals ohne triftigen Grund näher gekommen.
»Ich habe zwei Geschwister«, erzählte ich, weil es mir unfair vorkam, dass bloß er seine Geschichte offengelegt hatte. »Meine Schwester ist vor kurzem ausgezogen, aber mein Bruder wohnt noch zu Hause.«
»Du warst bestimmt selten alleine.« Nick ließ seine Finger elegant auf dem Dielenboden kreisen.
Ich folgte seinen Bewegungen mit meinen Augen. »Vielleicht war ich gerade deswegen oft alleine.«
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Elena - Dem Bösen so nah
Mistério / SuspenseElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...