Kapitel 19

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Ich ließ meine Tasche auf Jackies Bett fallen. Die, wie eine Zuckerstange, gestreifte Bettwäsche stach mir sofort ins Auge. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt und den Kopf schweigend gegen die Wand gelehnt.

»Wir haben keinen Orangensaft mehr. Geht auch Wasser?« Jackie tauchte im Türrahmen auf.

Stumm nickte ich und folgte ihr in die Küche.

Die Schränke waren mattweiß, die Arbeitsfläche glänzte sauber in Anthrazit. Neben der Spüle standen aufgereiht Blumentöpfe in einem kräftigen Rot, Gelb und einem hübschen Sonnenuntergangsorange. Darin befanden sich Basilikum, Petersilie und eine Pflanze, die entweder Thymian oder Rosmarin sein musste.

Eine Magnettafel war neben dem großen Fenster an der Wand befestigt. Daran hing ein ausgeschnittener Artikel aus einer Zeitschrift für Musikzubehör. Direkt darunter klemmte unter einem Magneten ein Foto von Jackies jüngerer Ausgabe mit Zahnlücke. Sie strahlte in die Kamera, ihre Schwester neben sich und die Hand ihrer Mutter oder ihres Vaters auf der Schulter. Genauer konnte ich es nicht erkennen, denn das Foto war an dieser Stelle ungerade abgeschnitten worden.

»Das sieht schlimm aus, oder?« Jackie deutete auf das Foto und stellte eine Mineralwasserflasche und zwei Gläser auf den Esstisch.

»Ich finde es nicht schlimm. Sieht doch süß aus.«, erwiderte ich lächelnd.

Jackie quittierte dies mit einem Achselzucken. Sie öffnete eine Schranktür und holte ein Glas mit Cookies hervor. Alleine bei dem Anblick vergaß ich fast meinen Kummer. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.

»Wir hatten auch noch andere Kekse, da bin ich mir sicher ... Aber anscheinend hat mein Bruder die mit in den Probenraum genommen.«, sagte Jackie. Sie öffnete das Glas und nahm sich einen Cookie.

Ich tat es ihr gleich. Es dauerte nicht lange, da klebte die Schokolade auch schon an meinen Fingern. »Wieso ist das Foto eigentlich abgeschnitten?«

Jackie ließ ihren Blick zu der Magnettafel schweifen. Ihre Wangen waren kreidebleich, als sie schließlich wieder zu mir sah.

»Du musst nicht antworten.«, warf ich ein.

»Nein, das ist schon okay. Meine Schwester hat das Foto nach dem Tod unseres Vaters abgeschnitten.« Jackie biss von ihrem Keks ab. »Sie war wohl enttäuscht.«

So leicht ihr die Worte auch über die Lippen gingen, ich war mir sicher, dahinter steckte Mühe. Ich kannte schließlich von mir selbst, wie sehr einen der Tod überrumpeln konnte. Doch mehr als alles andere hatte mich überrumpelt, dass sich mein Vater verhalten hatte, als wäre er mein Anwalt. Mein Anwalt - in einer verzwickten Situation - mit durchgestrecktem Rücken und nachdenklicher Falte zwischen den Brauen. Konnte es sein, dass er tatsächlich davon ausging, mich beschützen zu müssen, weil ich einen Mord begangen hatte?

Nun hatte ich versprochen, mich von Tante Ellis Haus fernzuhalten, obwohl ich nur an diesem einen Ort herausfinden und vor allem beweisen konnte, dass ich unschuldig war. Außerdem waren da noch der Zettel aus der Wanduhr meiner Tante und all die Erinnerungen, die mir so viel bedeuteten. Wie sollte ich mein Versprechen halten? War es an der Zeit, jeden Menschen in meinem Umfeld als einen möglichen Täter zu betrachten? Krista? Ihre Schwester? Meinen eigenen Vater?

»Jackie« Mein Kopf dröhnte.

Sie sah mich aufmerksam an. Mittlerweile waren ihre Wangen wieder rosig und der kurzzeitig hektische Ausdruck aus ihrem Gesicht verschwunden.

»Meine Tante wurde ermordet. Letzten Montag am Zwölften, als abends dieser heftige Sturm getobt hat.«, sagte ich und stützte das Kinn in die Hände.

Jackies Augen weiteten sich. Für eine Minute starrte sie mich ausdruckslos an, bis ich nickte, um die Ernsthaftigkeit meiner Worte zu untermauern. »Du hast dich nicht verhört. Es ist wahr, und ich kann kaum glauben, dass seitdem schon eine ganze Woche vergangen ist.«

»Wie? Warum? ... Und wer?«, war alles, was Jackie zustande brachte. Betroffen rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Das Knarzen des Holzes durchdrang die unerträgliche Stille zwischen uns.

»Ich habe keine Ahnung, wer es war, wie, oder warum. Das Problem ist, ...«

Unsicher schaute ich auf, direkt in Jackies haselnussbraune Augen. »Dass ich am Abend der Tat im Haus war und mich versteckt habe, weil ich gedacht hatte, die Schritte eines Einbrechers zu hören.«

Jackie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das war doch dein Glück, oder nicht? Sonst wärst du jetzt vielleicht auch tot.«

»Ja, ... Aber das ist egal, denn sobald die Polizei herausfindet, dass ich im Haus war, bin ich die Hauptverdächtige in einem Mordfall, und darauf bin ich nicht besonders scharf.«, entgegnete ich mit brüchiger Stimme. Meine Hände waren schweißnass.

Dank all der Kriminalromane, die ich jemals gelesen und mit meiner Tante besprochen hatte, konnte ich mir schon genau vorstellen, was als nächstes geschehen würde. Und als übernächstes. Die Bilder in meinem Kopf reichten von flatternden Absperrbändern der Polizei, Vorgangsnummern der Spurensicherung, Menschen in weißen Anzügen bis zu Plastiktütchen, in die Beweise eingetütet wurden. Beweise gegen mich, die vermeintliche Täterin.

»Was soll ich bloß tun, Jackie?«, flüsterte ich.

Sie hob ihre Schultern. »Nichts. Bleib ruhig und warte ab.«

Dann griff Jackie nach dem Keksglas und holte einen der leckeren Cookies heraus. Behutsam schob sie ihn über den Tisch, bis vor meine aufgestützten Ellbogen.

»Morgen nach der Schule bringe ich dich nach Hause.« Jackie sah mir fest in die Augen.

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. Wenn Jackie mich nach Hause brachte, bedeutete das weniger Angst für mindestens eine halbe Stunde. Ich konnte mir vorstellen, wie wir durch den Stadtpark und über die Brücke gingen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass wir sofort durch die Altstadt liefen. Dort waren mehr Menschen, auch bei dem Regenwetter, und der Weg war deutlich kürzer.

So wälzte ich jeden Gedanken an die kommenden Tage. Mich überkam schneller die Panik als sonst, die mich in Angstschweiß ausbrechen und nach Luft ringen ließ. Ich versuchte, jede Sekunde zu genießen, die ich an diesem Nachmittag noch mit Jackie hatte, doch in der Realität funktionierten meine Vorsätze nicht. Der Wunsch nach Ruhe wurde größer. Jeder einzelne Atemzug fühlte sich an, als würde ich ersticken, und ich lebte nur noch für den Moment, in dem ich an diesem Abend ins Bett steigen und meine Sorgen für acht Stunden vergessen würde.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt