Seine Schritte knarrten auf dem Parkett unseres Hauses. Dann knallte es. Es knallte wieder und wieder. Kurz darauf ertönte ein Klirren. Laute des Schmerzes waren zu hören. Sie betäubten mich. Unten wurde die Haustür aufgeschlossen. Unsere Mutter war von der Nachtschicht im Krankenhaus zurückgekommen. Und schon stürmte sie die Treppe hinauf.
Zusammengekauert saß ich auf dem Bett meiner Schwester. Ich verstand nicht, warum er das tat. Ich verstand nur, dass das was unser Vater machte, nicht gut war. Er war nicht mehr er selbst. Schon wieder war er dieses Monster, das permanent in ihm schlummerte. Das Monster, umhüllt von dem unverkennbaren Geruch nach Alkohol.
Auf dem Flur war es still geworden. Meine Schwester, die an der Wand heruntergesunken war, schaute angsterfüllt auf. Schwarze Schlieren der Mascara zogen sich über ihre Wangen, aber die Tränen waren versiegt. Langsam wie in Zeitlupe stand sie auf. Mit ihrer Hand machte sie eine ruhige Bewegung, die mir zeigte, dass ich sitzen bleiben solle. Ich beobachtete, wie Nina mit bebenden Händen die Türklinke herunterdrücken wollte. Plötzlich stieß jemand die Tür von außen auf und Nina stolperte zurück, bis sie beinahe ihr Gleichgewicht verlor und in einem Haufen von Kleidern landete. Blut schoss aus ihrer Nase. Ich weinte.
Unser Vater sprang über die Türschwelle. Stockbesoffen. Nina kreischte laut, als er sie grob an den Haaren packte. Tränen liefen ihr unaufhaltsam über die Wangen. Ihr Mund war weit aufgerissen. Schmerz flammte in ihrem Gesicht auf. Es war entsetzlich. Unsere Mutter redete wild drauf los. Tiefe Ringe zeichneten sich unter den Augen der hageren, erschöpft aussehenden Frau ab. Gleich würde sie aufgeben und dorthin gehen, wo sie die Schreie nicht mehr hören konnte ...
Daniel kam herein. Seine Lippe war aufgeplatzt und ihm klebte Blut im Gesicht. Er packte unseren Vater an den Schultern, obwohl dieser zwei Köpfe größer war. Nina schrie. Ich presste mir die Hände vor die Augen, in der Hoffnung, unsichtbar zu werden. Tiefe Schluchzer erschütterten meinen jungen Körper. Immer und immer wieder spürte ich Wellen von höllischem Schmerz, die mich zerfraßen und mich wünschen ließen, nicht mehr zu leben. Ich hasste diese Welt. Panisch schlug ich um mich, als mich jemand an den Armen berührte. Der vertraute Geruch meines Bruders drang in meine Nase. Er hob mich hoch und trug mich weg. Weg von dem Monster. Weg von dem Alkohol, der den gesamten Raum in einen stinkenden Schleier gehüllt hatte.
»Sschh«, machte Daniel. Wir waren in meinem Zimmer angekommen. Nina schrie nicht mehr. Stattdessen war es wie nach jedem Ausbruch des Monsters totenstill im Haus. Es war wie die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Wir wussten, es würde wieder losgehen. Morgen. Übermorgen. Jeden Tag für den Rest unseres Lebens.
»Ich will hier weg.« Zitternd klammerte ich mich an den Schultern meines Bruders fest.
»Ich auch.« Er setzte mich behutsam auf meinem Bett ab, »Aber ich bin erst zehn. Wir können nicht weglaufen.«
***
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch. Meine Augen fühlten sich verquollen an, meine Umgebung nahm ich kaum wahr. Das Beben meines Herzens ließ Erinnerungen an den Traum hochkommen. Tränen kullerten mir über die Wangen. Hektisch ließ ich meinen Blick durch den Raum schweifen, doch die Sicht verschwamm immer wieder.
Eine Decke raschelte. »Hey«, flüsterte jemand von links. Ich fuhr so heftig zusammen, dass die Person neben mir zurückzuckte.
Nick. Die Erkenntnis, dass wir noch immer in dem Haus von Elena verstorbener Tante waren, traf mich wie ein Schlag. Meine Schluchzer wurden leiser. Scham erfüllte mich, weil ich vor Nick weinte. Ich wünschte, ich könnte aus dieser Situation fliehen, aber das ging nicht. Nicht, ohne meine Freunde im Stich zu lassen.
»Hier ist niemand außer uns.« Nicks Stimme war vom Schlafen ganz tief und rau, irgendwie fremd, »Du bist in Sicherheit.«
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen, doch das änderte nichts daran, wie mein Puls raste. Die Erinnerungen an den Traum ließen langsam nach. Hin und wieder schlichen sich noch vereinzelte Fetzen der Vergangenheit in meinen Kopf, aber nach fünf Minuten in absoluter Stille hörte es endlich ganz auf.
Nicks Miene war besorgt. Er reichte mir eine Decke, damit ich sie mir selbst um die Schultern legen konnte. Dankbar kuschelte ich mich in den weichen Stoff.
Mein Smartphone, das rechts auf dem Fußboden lag, vibrierte. Ich warf einen Blick auf das Display. Mein Bruder hatte mir eine Nachricht geschickt. Er wollte wissen, wo ich war. Sofort schaute ich auf die Zeitanzeige meines Handys. Neun Uhr morgens, schoss es mir durch den Kopf. Kurz darauf kam mir wieder in den Sinn, dass Nick und ich gestern Abend in der Dunkelheit nicht mehr hatten durch den Wald laufen wollen. Es war uns ein zu großes Risiko gewesen, also hatten wir im Wohnzimmer von Elenas Tante auf dem Dielenboden geschlafen. ... Und die quälenden Rückenschmerzen, die mich nun plagten, hatten selbst fünf Decken nicht verhindern können.
»Ich schreibe meinem Bruder eine Nachricht.«, sagte ich.
Nick rückte von mir weg. »Schreib Tobias, dass wir Luise getroffen haben.«, erinnerte er mich.
»Okay, erledigt.« Ich schickte die Nachrichten weg. Dann rieb ich mir müde über die Augen. Sie brannten ein wenig von den Tränen.
Nick richtete sich auf. Falls er ebenso starke Rückenschmerzen wie ich hatte, ließ er es sich definitiv nicht anmerken.
Gemeinsam gingen wir in die Küche, wo wir uns an einer Packung mit Müsliriegeln bedienten.
»Denkst du, Luise hat ihre Schwester umgebracht?«, fragte ich irgendwann, nachdem ich den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte.
»Wegen ihrer Liebe zu Elisabeths Ehemann?« Nick zuckte die Achseln, »Wäre das nicht ziemlich nachtragend?«
»Ja, wäre es.«, gab ich zu.
Nachdenklich lief ich an der schmalen Küchenzeile entlang. In den Schubladen hatte meine Großmutter immer alles Mögliche aufbewahrt. Alltägliche Gegenstände, die man jederzeit gebrauchen konnte. Auch ihre Zettel, auf denen sie die Daten des nächsten Arztbesuches notiert hatte, hatten stets dort gelegen.
Ohne lange darüber nachzudenken, öffnete ich eine der Schubladen. Ich erwischte die Besteckschublade. Die zweite Schublade war von Gummibändern und Rezeptbüchern gefüllt. Erst die dritte Schublade enthielt private Zettel mit Notizen. Ein weiteres Notizbuch kam zum Vorschein. Darunter befand sich ein weißer Briefumschlag. Ich tastete die Ränder ab. Es musste sich Papier in dem Umschlag befinden. Mit einer Schere öffnete ich ihn.
Mir stockte der Atem, als ich die drei Worte las, die ganz oben auf den gefalteten Zetteln standen. Ich hielt Nick den Briefumschlag vor die Nase.
»Mein letzter Wille«, las er vor. Nun wirkte auch er wie zu Stein erstarrt.
Wir hörten, wie die Zweige der Bäume draußen gegen die Fenster peitschten. Meine Handflächen wurden schwitzig und ein kalter Schauder lief mir über den Rücken.
»Es ist das Testament.« Ich faltete die Zettel auseinander. Diese entpuppten sich als edles Briefpapier.
Mit geweiteten Augen überflog ich die saubere Schrift.
»Was steht da?«, wollte Nick wissen.
»Ich, Elisabeth Weidmann ..., geboren am ..., bestimme hiermit Elena Niehoff als alleinige Erbin. Ich bevollmächtige Stefan Niehoff, mich in Vermögensangelegenheiten zu vertreten, bis Elena volljährig ist. ... Da folgt nur noch rechtliches.« Ich blickte von dem ersten Briefpapier auf.
Nick deutete auf das zweite Papier in meinen Händen.
»Meine liebe Elena, du hast keine Ahnung, wie dankbar ich dir für die letzten Jahre bin. Du sollst meine Taschenuhr bekommen. In deinen schlimmsten Minuten wird sie dir Trost schenken. An den wunderbarsten Tagen deines Lebens wird sie dich glücklicher machen. Sie schenkt dir Hoffnung, wenn du sie am Meisten brauchst und sie verleiht dir Stärke, falls du mal schwach sein solltest. Wir beide wissen, das wird selten vorkommen. Du bist so stark. Verliere das nicht. Verliere dich selbst nicht in dem Alltagsstress. Und such dir ein paar Thriller aus. Elisabeth.« Zum Ende hin sprach ich leiser, bis ich den Namen von Elenas Tante bloß noch flüsterte.
Nick sagte erstmal gar nichts. Schweigend betrachtete er das Briefpapier in meiner Hand.
Schließlich faltete ich das Papier wieder zusammen und steckte es zurück in den Umschlag. Ich würde ihn Elena geben.
Gedankenverloren drehte sich Nick um. »Lass uns nach Hause gehen.«, murmelte er und klang abweisend, während er aus der Tür ging. Ich blickte ihm irritiert nach.
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Elena - Dem Bösen so nah
Mistério / SuspenseElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...