Kapitel 17

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Jackie und ich überquerten gemeinsam die Brücke im Stadtpark. Vor einigen Jahren hatten wir uns bei einer Schulveranstaltung am Buffet kennengelernt. So verschieden wir auch waren, für die Häppchen dort hatten wir uns beide begeistern können. Sie waren überragend gut gewesen, besonders die mit Avocado. Das war der Beginn unserer Freundschaft gewesen, und obwohl wir im letzten Schuljahr tendenziell selten Zeit miteinander verbracht hatten, machte jedes einzelne Treffen großen Spaß.

»Was hast du am Wochenende vor?«, fragte Jackie mich, als wir auf der anderen Seite des Flusses die Treppenstufen der Brücke hinabstiegen.

Ein Gedanke, den ich bisher völlig verdrängt hatte, gelangte zurück an die Oberfläche. Meine Tante war tot. Mein Vater müsste bald die Beerdigung organisieren, die sie sich gewünscht hatte. Oder hatte er das vielleicht schon getan? Warum dauerte es so lange, bis er mit mir darüber reden wollen würden?

»Meine Tante wird wohl beerdigt ...« Das meine Stimme brüchig wurde, bekam auch Jackie mit.

Sie klemmte sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinters Ohr, bevor sie ihren Arm fürsorglich um meine Schultern legte. »Du klingst noch nicht sehr sicher darüber.«

»Wie sollte ich? Mein Vater hat mir noch nichts genaueres verraten.«, erwiderte ich und klang bissiger als beabsichtigt.

Um schnell von dem Thema abzulenken, schob ich eine Frage hinterher. »Wie geht es deiner Schwester und deinem Bruder?«

Jackie ließ ihren Arm sinken und seufzte theatralisch.

»So schlimm?«, grinste ich.

»Meine Schwester zieht bald mit ihrem Freund zusammen. Die beiden kriegen sich ständig in die Wolle, weil er eine andere Tapete will oder sie nicht einverstanden mit dem Kleiderschrank ist, die beiden sich nicht über den Platz der Mikrowelle einigen können et cetera. Und mein Bruder spielt immer noch in seiner Band. Er verwandelt unsere Garage regelmäßig in einen Probenraum.«, erzählte Jackie.

Ich musste mir ein Lachen verkneifen. »Und ich wollte immer Geschwister haben.«

»Sei froh, dass du keine hast.«, entgegnete Jackie.

Wir lachten, und blieben für einen Moment am Ufer des Flusses stehen. Der Wind zerzauste Jackie die brustlangen Haare, während ich ihr triumphierend meinen eingeflochtenen Zopf zeigte.

»Du Glückliche« Jackie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, »Aber ich kann mir leider nicht so gut Zöpfe flechten wie du. Das wird nie stramm genug und dann geht alles wieder auf, ehe ich ein Haargummi finden kann.«

»Kann dir deine Mutter nicht die Haare machen?«, wollte ich wissen.

»Von meiner Mutter habe ich mein Ungeschick beim Flechten geerbt, fürchte ich.« Jackie rieb fröstelnd ihre Handflächen aneinander, sodass es aussah, als würde sie beten. Anschließend ließ sie ihre Hände zu ihren Ellbogen gleiten. »Gott, warum ist es heute nur so kalt? Ich habe nachher sicher eine knallrote Nase.«

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »So schlimm ist es nicht.«

»Noch nicht«, murmelte Jackie. Ihre Wangen waren tatsächlich fast so rot wie ihre Lippen, ihre Nasenspitze hingegen glänzte bloß verdächtig. Hoffentlich würde Jackie nicht krank werden. So egoistisch es auch klingen mochte, aber ich hatte Angst davor, alleine zu sein, wenn ich Jackies Hilfe unbedingt brauchen würde.

»Hast du vorhin mit Jasmin gesprochen?«, fragte Jackie heiser.

Sie überrumpelte mich mit der Frage. Mir bildete sich ein Kloß im Hals, den ich nur schwer herunterschlucken konnte.

»Nein, wieso?«, krächzte ich.

Jackie kickte einen Haufen Laub auseinander. Die Blätter raschelten und hinterließen feuchte Spuren auf ihren dunkelbraunen Stiefeletten.

»Vergiss, dass ich gefragt habe.« Kopfschüttelnd blickte sie auf ihre Schuhspitzen.

»Was hat Jasmin gesagt?«, platzte es aus mir heraus. Ich sah ein verschleiertes Bild vor meinem geistigen Auge, in dem Jasmin mit ihren Freundinnen tuschelte und ihnen erzählte, ich hätte mich andauernd in Tobias und ihre Gruppenarbeiten eingemischt, obwohl ich niemals willkommen war.

Bei diesen Gedanken wurde der Kloß in meinem Hals größer. Mein Leben kam mir wie eine Bürde vor. Als hätte man Gewichte an meinen Armen und Beinen befestigt.

»Ich bin mir sicher, Jasmin ist nur eifersüchtig.« Jackie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.

»Das ist sie nicht, glaub mir. Sie ist wütend auf mich, weil ich mich in Tobias und ihre ... Freundschaft ... eingemischt habe.«, erwiderte ich leise.

Jackie kratzte sich am Haaransatz. »Jeder hat gesehen, das ihr, Tobias und du, euch gut versteht. Die einzige Person, die dazwischengefunkt hat, das war Jasmin. Du kannst den ganzen Jahrgang fragen, sie haben es fast alle ausnahmslos mitbekommen.«

Ich wischte mir schnell über die Augen, bevor ich zu Jackie aufsah.

Sie schnaubte verächtlich. »Die Tatsachen verdrehen kann Jasmin gut. Wieso glaubst du ihr diesen Mist?«

Weil sie meine beste Freundin war.

»Weiß ich nicht.«, murmelte ich und zupfte an den Bändern meines Rucksackes, mit denen man die Länge der Träger verstellen konnte.

Der sandige Weg am Flussufer ging in einen knirschenden Kieselsteinweg über. Auf der rechten Seite begann das Neubaugebiet, welches sich innerhalb der letzten Jahre erschreckend vergrößert hatte. Einige Bauern hatten ihre Felder verloren, Doppelhäuser waren erbaut worden. Die Grundstücksgrenzen waren gesäumt mit Hecken, die in dieser Jahreszeit kahl waren und keinen Blickschutz mehr gewährten.

Wir erreichten eine Kreuzung des Wegs, an der wir beide ohne Absprache stehenblieben. Jackie musste geradeaus weitergehen in Richtung der Altstadt, ich hingegen musste rechts an den Brombeersträuchern vorbeilaufen, bis ich die Hauptstraße überqueren und in unsere Straße einbiegen konnte.

»Willst du nicht mal wieder zu mir kommen?«, fragte Jackie plötzlich.

Unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. »Gerne. Morgen vielleicht?«

Lächelnd nickte Jackie, und deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Meine Mutter wartet sicherlich schon mit dem Essen.«

»Was gibt es denn?«, wollte ich wissen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn ich ans Mittagessen dachte.

»Kartoffelauflauf.«

Jackie lachte. »Und schreib mir rechtzeitig eine SMS, um welche Uhrzeit du vorbeikommst. Dann kann ich vorher noch aufräumen.«

»Geht klar.«, rief ich Jackie nach. Sie wich einem Straßenpoller aus, der inmitten einer Einfahrt stand. Ihre langen Haare wehten im Wind, ihre dunkelblaue Jeans schmiegte sich eng an ihre Beine, und Jackie vergrub die Hände in den Taschen ihrer taillierten Winterjacke mit dem grauen Kunstfell an der Kapuze.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt