Es war noch früh am Morgen. Die Busse kamen erst ab halb acht und der Parkplatz für die Lehrer war ebenfalls menschenleer. Nur zwei Autos parkten am Rand in der morgendlichen Dunkelheit. Ich schob mich an einem Schüler vorbei, der lustlos auf sein Smartphone starrte. Sein Atem dampfte in der kalten Luft. Der Tau hatte Wassertropfen auf den eisernen Absperrungen der Bushaltestellen hinterlassen.
Ich ließ meinen Blick schweifen. In diesem Moment schloss die Bibliothekarin die großen Glastüren der hell erleuchteten Bibliothek von innen auf. Erleichtert atmete ich aus.
Kaum saß ich in der warmen Bibliothek an einem der Gruppentische, kehrte die Müdigkeit zurück. Mein Kopf schmerzte. Trotz alledem zermarterte ich mir schon wieder das Hirn darüber, weshalb Elena dieses Foto in ihrem Safe versteckt hatte. Hatte sie es für mich getan? Es ergab einfach keinen Sinn, dass sie ein Foto meiner Mutter aufbewahrte.
Nachdenklich schaute ich aus dem Fenster hinaus. Langsam tauchten die ersten Schülergruppen auf. Sie lachten und vergruben die Hände in den Taschen ihrer Winterjacken. Es war beinahe witzig, die Bewegungen ihrer Lippen zu sehen, ohne ein Wort zu verstehen. Ich schaute weg, als die gemischte Schülergruppe zu den Treppen schlenderte. Wenn ich mich konzentrierte, sah ich nun die Spiegelung der Bibliothekarin in der Fensterscheibe. Sie trug einen hochgebundenen Pferdeschwanz, einen bordeauxroten Rollkragenpullover und sortierte Romane in die großen, hölzernen Regale ein. Als sie hochguckte und nach einem anderen Roman griff, streiften sich unsere Blicke in der Fensterscheibe. Peinlich berührt wandte ich mich ab.
»Hallo«, erklang eine Stimme hinter mir.
Ich drehte den Kopf. »Hey«
Nick ließ sich auf den freien Platz neben mir sinken.
»Wollten wir uns nicht erst nach Schulschluss hier treffen?«, fragte ich.
»Soll ich wieder gehen?« Er machte Anstalten, aufzustehen. Instinktiv hob ich den Arm, um Nick am Weggehen zu hindern. Ich berührte seine Jacke und er guckte mich reflexartig an. In seinem Blick lag vieles. Vielleicht auch Verwirrung, aber keinerlei Wut.
»Du kannst hier bleiben, wenn du willst.« Fluchtartig ließ ich meinen Arm sinken, »Ein bisschen Gesellschaft wäre schön.«
Er setzte sich wieder.
Nach einer Weile blickte ich vom Tisch auf. »Kann ich dir etwas anvertrauen?«
»Kommt drauf an, was es ist.«, sagte Nick.
Behutsam zog ich das Foto aus meiner Jackentasche heraus. Ich legte es auf den Tisch vor uns. Andächtig strich ich mit meinem Finger über die Aufnahme der jungen Frau. Ihre Haare flatterten im Wind und sie strahlte, als wäre sie der glücklichste Mensch auf diesem Planeten.
»Was ist das für ein Foto?« Nick runzelte die Stirn.
»Ich habe es in dem Buchsafe gefunden und eingesteckt.«, antwortete ich zögerlich.
Nick ließ den Kopf sinken, bevor er mich schlagartig anschaute. »Du hast es eingesteckt?«, entfuhr es ihm.
»Es hat nichts mit Elenas Tante zutun.«, meinte ich.
Die Bibliothekarin lief an uns vorbei. Sie warf Nick einen vernichtenden Blick zu.
»Warum sieht sie dich so an?«, flüsterte ich.
Nick zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich.« Da war sie wieder. Die Wut, die in seiner Stimme mitschwang. Jetzt traf sie auch mich. »Hat dich der Kerl erpresst?«
»Nein«
»Was dann?«, zischte Nick.
»Ich sagte doch, es hat nichts mit Elenas Tante und alldem zutun. Außerdem weißt du, dass ich die Straßenseite wechseln würde, käme mir ein merkwürdiger Typ aus dem Viertel entgegen.« Ich schob das Foto weiter zu Nick rüber.
Er ignorierte es. »Vor einigen Tagen hättest du bei meinem Anblick auch noch die Straßenseite gewechselt.«
Wurde das Gespräch nun zu einer persönlichen Auseinandersetzung? Kränkte es Nick etwa, dass ich noch immer kein großer Freund von diesem beunruhigenden Viertel war?
»Du kannst tun, was du willst, Jackie.«, wisperte Nick, als die Bibliothekarin erneut an uns vorbeilief.
Ich sah Nick wütend an. »Das tue ich auch.«
»Kannst du dir jetzt endlich mal das Foto angucken, anstatt einen Streit zu provozieren?«, setzte ich etwas ruhiger hinzu.
Nicks finsterer Blick blieb bestehen. Angespannt nahm er das Foto in die Hand. Er drehte es auf die Rückseite. »Natalia im Urlaub?«, las er vor, doch es klang eher wie eine Frage.
»Natalia, die Frau auf dem Foto, ist meine Mutter.«, sagte ich.
»Wieso hatte Elena ein Foto deiner Mutter?« Nick runzelte die Stirn.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen. »Wenn ich das wüsste ...«
Wir schwiegen eine Minute, in der ich mich dabei ertappte, wie ich an meinen Fingernägeln pulte. Eilig rieb ich die Handflächen an meiner Jeans. Das Foto machte mich nervös.
»Mein Vater hat jeden Tag getrunken. Einige überleben das« Ich fuhr mir durchs Haar, »Aber er nicht. Irgendwann fiel er in einen Dämmerzustand. Im Krankenhaus haben sie ihm durch die Nase eine Sonde in die Speiseröhre eingeführt und Bluttransfusionen gegeben.«
Mir wurde ganz schwindelig. »Er war danach auch nochmal bei Bewusstsein ... Einige Zeit hat er sogar weitergelebt wie früher. Beim zweiten Mal ist er wieder in einen Dämmerzustand gefallen. Daran ist er gestorben. Ich kam aus der Schule, als sie ihn abgeholt haben. Seit jenem Tag habe ich meinen Vater nie wieder gesehen.«
Nick sagte nichts. Seine Atmung war leise und er guckte mich von der Seite an.
»Seine Todesursache waren innere Blutungen. Die Leber war auch nicht mehr in Ordnung, aber die Ärzte sagten, es hätte wohl an Krampfadern in der Speiseröhre gelegen. Schon ein Krümel kann eine Blutung auslösen und man dämmert nach einigen Tagen einfach weg, ohne es überhaupt zu bemerken.« Ich gab mir Mühe, die Fassung zu bewahren. Es war nicht leicht, dabei war ich mir sicher, meinen Vater nicht einmal besonders gern gehabt zu haben. Wir waren verwandt, mehr nicht.
»Unser Nachbar hat auch getrunken«, sagte Nick. »Und in der Kneipe gegenüber trinken sie ab zwanzig Uhr.«
Er sprach leise und mitfühlend. »Wo du auch hinsiehst, es ist überall.«
»Ich weiß« Blinzelnd schaute ich an die Decke, »Der Alkohol ist auch nicht mein Problem.«
Meine Stimme war dem Brechen nahe. »Mein Vater ist es. Er ist das Problem. Weil er überall in meinen Gedanken ist und ich es nicht vergessen kann.«
Plötzlich spürte ich eine wärmende Schulter an meinem Arm. Nick war etwas aufgerückt. Mein Herz klopfte schneller.
»Vielleicht kannst du es nicht vermeiden, hin und wieder an ihn zu denken.«, flüsterte er.
Emotionen überrollten mich. Bisher war ich immer die starke Jackie gewesen. Diejenige, die nicht weinte und keine Angst zeigte. Es war alles gelogen. Diese Mauern um mich herum waren der einzige Grund, weshalb ich nicht zu einem Häufchen Elend zusammenschrumpfte. Ohne sie hätte ich vielleicht nicht mehr aufhören können zu weinen.
»Du kennst eins meiner Geheimnisse.«, wisperte ich. Meine Hände zitterten nicht einmal annähernd so stark wie meine Stimme.
Nick zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er antwortete. »Du kennst auch eins meiner Geheimnisse.«
Erstaunt schaute ich ihm in die Augen. »Dass deine Eltern tot sind?«
Er nickte.
Zum ersten Mal sah ich Nicks schwarze Wimpern und die dunklen Bartstoppeln auf seiner ebenmäßigen Haut. Nichts von alledem, was ich erkennen konnte, wollte mich abschrecken. Es gefiel mir.
»Wir haben noch fünf Minuten bis zum Unterricht.«, sagte Nick.
Ich riss meinen Blick von ihm los, doch seine Worte konnte ich trotzdem nicht vergessen. Du kennst auch eins meiner Geheimnisse. Das klang beinahe so, als hätte sich Nick ähnlich hohe Mauern aufgebaut, die er kaum jemanden überwinden ließ.
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Elena - Dem Bösen so nah
Mystère / ThrillerElena quält das zerrüttete Verhältnis zu ihrer besten Freundin. Sie ahnt nicht, dass diese sie hintergeht. Noch scheint alles harmlos. Auch, wenn Elena einen Verdacht hat. Doch dann wird aus Verdacht Gewissheit. Und plötzlich steht nicht nur ihre Fr...