Kapitel 69

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Es war bereits dämmrig draußen und der Vollmond war bereits aufgegangen. Zarte Schneeflocken tanzten im Wind. Sie verhedderten sich in meinen Haaren und unter meinen Winterstiefeln knirschte der festgetretene Schnee, der auf unserer Einfahrt lag.

»Ob es jemals wieder sonnig und warm wird?« Daniel hielt sich die Hand wie einen Schirm an seine Stirn und sah in den Himmel.

Ich tat es ihm gleich. »Momentan sieht es nicht danach aus.«

Wir hielten inne. Es entstand eine einvernehmliche Stille, durch die wir das leise Rieseln des Schnees noch intensiver wahrnahmen.

»In zwei Tagen ist Heiligabend.«, sagte ich und hielt die Hand ausgestreckt in die Luft. Einige Flocken sammelten sich auf meinen vor Kälte geröteten Handflächen. Wie gerne hätte ich diesen Moment mit Nick geteilt.

Daniel legte seine Hand auf meiner Schulter ab. »Ich werde dich Heiligabend wieder zum Singen zwingen.«, sagte er und lachte.

Es wärmte mir das Herz, als ich an unser alljährliches Singen von traditionellen Weihnachtsliedern dachte. »Diesmal singe ich freiwillig.«

»Falls nicht ...« Mein Bruder kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, »Ich lasse mir etwas einfallen. Vielleicht kriegst du mein Geschenk erst ein halbes Jahr später.«

»Zu Ostern«, warf ich ein.

»Genau!« Daniel legte seinen Arm kumpelhaft um mich.

Gemeinsam liefen wir zur Terrassentür. Daniel schob die Glastür auf und wir betraten unser Wohnzimmer. Unsere Mutter lehnte am Türrahmen zum Flur. In ihren Händen hielt sie ein Kochbuch mit weihnachtlichen Akzenten auf dem Einband. Eine Zimtstange war auf dem Cover abgebildet, und mir fiel schlagartig wieder ein, dass wir ihr dieses Buch im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt hatten.

Penibel trat ich meine Schuhe an der Fußmatte ab. Daniel schlüpfte aus seinen Sneakern raus. Die Schnürsenkel waren bei ihm immer lose an den Seiten seiner Knöchel reingesteckt, und die Schuhe schlammverschmiert und ausgelatscht.

Ich schob die Terrassentür wieder zu. Im Garten glitzerte unsere warmweiße Lichterkette, die in den Zweigen eines Strauchs unter einer flachen Schneeschicht befestigt war. Die Lichtreflexe spiegelten sich in den Fenstern und dem Glas der hohen Vitrine.

Im Kamin knisterte ein Feuer. Daniel balancierte eine Weihnachtskugel. Mithilfe des kleinen Plastikhakens befestigte er die rote Kugel im noch kahlen Tannenbaum. Einige der piksenden Nadeln waren auf dem gräulichen Parkettboden verstreut. Es roch nach Tanne und Verpackungsmaterial des bordeauxroten Lamettas.

»Jackie, sieh mal.« Daniel hielt mir eine der Weihnachtskugeln vor die Nase.

Ich blickte in die verzerrte Spiegelung meiner selbst und lächelte kurz. Doch so richtig nach Lachen war mir nicht zumute. Dafür fühlte sich die Wunde in meinem Herzen noch zu schmerzhaft an.

Die Schneeflocken schmolzen in meinen Haaren. Sie rollten als kühle Wassertropfen meinen Nacken hinunter. Ich bekam unwillkürlich eine Gänsehaut von der unerwarteten Kälte.

Unsere Mutter klappte ihr Kochbuch zu. Sie machte eine winkende Handbewegung, und ich folgte ihr bis zu dem hohen Schrank im Eingangsbereich. Ich nahm das Kleid heraus, welches wir extra für den Schulball gekauft hatten. Es war schlicht dunkelrot, ein Weihnachtston, wie meine Mutter felsenfest behauptet hatte.

***

Der Stoff schmiegte sich sanft an meine Haut. Am Oberkörper lag das Kleid eng an, ab der Taille fiel es locker hinab bis über meine Schuhe. Die Stickereien um den runden Halsausschnitt ließen das Kleid verspielt wirken. Der Chiffon fühlte sich rau, fast ein wenig sandig zwischen meinen Fingern an. Durch ihn konnte ich das starke Glänzen des Satins erkennen.

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt