Kapitel 7

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Verzweifelt suchte ich nach dem kleinen Schuhkarton, in dem meine weißen Sportschuhe einmal drin gewesen waren. Ich räumte dabei den halben Schrank aus, durchsuchte das Bücherregal und rollte mich unter mein Bett. Doch außer Socken und viel Staub fand ich nichts.

Meine Nase kitzelte bereits höllisch. Ich kratzte mich an der Stirn, und ließ mich auf meine kleine Couch fallen. Wo konnte ich den Karton nur versteckt haben? Oder war er auf dem Dachboden, weil mein Vater nicht mitbekommen hatte, dass ich in diesem Schuhkarton sämtliche Erinnerungen an Freunde und besondere Unternehmungen gesammelt hatte?

Ich winkelte die Beine an. Müde legte ich das Kinn in der schmalen Ritzen zwischen den Knien ab. Mich wollte einfach nicht loslassen, was dieser Zettel wohl für eine Bedeutung hatte. Bewusst war mir nur, alle Antworten auf meine Fragen würde ich in Tante Ellis Haus finden.

Mühsam richtete ich mich auf. Ich ging zu meinem Schreibtisch und schrieb eine Nachricht für meinen Vater, die ich schließlich an unsere Garderobe im Flur pinnte.

Die Haustür fiel hinter mir ins Schloss. Im Gehen zog ich meine Jacke an, und schloss die Gartenpforte, sobald ich auf dem Gehweg stand.

»Guten Tag«, murmelte ich, als ich den Kopf unseres grauhaarigen Nachbarn hinter seiner Hecke aus Lebensbäumen sah. Er grüßte leise, und kurz darauf war der Kopf hinter der Hecke auch schon wieder verschwunden.

Eigentlich hatte ich immer einen guten Draht zu den Leuten in dieser Straße gehabt. Wir grüßten einander mit einem simplen Winken oder Kopfnicken. Nur der alte Mann von gegenüber blieb eine harte Nuss. Er schimpfte zu gerne über »die Jugend von heute«, die ständig nur auf ihre Smartphones sah. Die Zeiten hatten sich nunmal geändert, ob es dem grauhaarigen Mann gefiel, oder nicht.

Mit gesenktem Kopf lief ich die Straße entlang. Ich wollte mir gerade wieder meine Kopfhörer in die Ohren stecken, da stieß ich mit jemandem zusammen. Mein Kopf schmerzte, und für einen Moment sah ich Sterne.

Peinlich berührt schaute ich auf. »Entschuldigung ...« Dann erblickte ich Tobias. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte dich besuchen.«, antwortete er.

Ich rieb mir die schmerzende Stirn. »Hat wohl nicht so lange gedauert mit der Buchhaltung ...« Mein Tonfall war scharf.

Tobias schüttelte seinen Kopf. Mir fiel sofort auf, dass er bereits zu Hause gewesen sein musste. Seine Haaren waren perfekt mit Gel zurückgekämmt.

»Mein Vater hatte noch einen Termin. Es ging um eine wichtige Geschäftsreise, die bald stattfindet. Da durfte ich nicht stören und bin gegangen.«, sagte Tobias.

Der Kloß in meinem Hals war wieder da. »Das Geschäft geht immer vor, ich weiß.«

»Was soll ich denn dagegen tun?« Mein bester Freund wirkte plötzlich hilflos. Er sah mich einfach an, mit diesem Ausdruck im Gesicht, der eine Mischung aus Trauer und Wut bedeutete. Seine Mundwinkel zuckten und er presste die Lippen fest zusammen.

»Es tut mir leid, okay?« Ich berührte Tobias am Arm, »Du kannst mir alles erzählen, und ich verspreche dir, ich werde keine abfälligen Bemerkungen machen, auch, wenn ich es nicht toll finde, wie deine Eltern deine Zukunft planen, ohne überhaupt ein Wort mit dir darüber gesprochen zu haben.«

Tobias setzte seinen Rucksack ab. »Ich will momentan einfach nichts mehr von der Zukunft hören.«

»Okay, ich werde es nicht mehr erwähnen.«, versprach ich schnell.

Dankbar nickte Tobias. Er zog den Reißverschluss seines Rucksacks auf. Dann griff er in ein Seitenfach, aus dem er eine kleine, schwarze Schachtel herausholte.

»Mir tut leid, dass ich dir nicht gratuliert habe. Ich habe nur an die Firma und die Buchhaltung heute Nachmittag gedacht. Das ist zwar keine gute Entschuldigung, aber ich will, das du weißt, die Freundschaft ist mir sehr wichtig. Alles Gute zum Siebzehnten.« Tobias nahm meine Hand und legte die Schachtel behutsam auf meine Handfläche. Seine Finger verharrten für einen Augenblick in dieser Position, doch dann machte Tobias einen eiligen Schritt zurück.

»Was ist das?«, lächelte ich und wischte mir eine Träne von der Wange.

Tobias erwiderte mein Lächeln. »Pack es aus.«

Ich betrachtete die kleine Schachtel mit der weißen Satinschleife in meiner Hand. Eine Schneeflocke landete auf meiner Nasenspitze. Rasch strich ich sie mit meinem Zeigefinger weg, und entfernte gleichzeitig die Tränen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte.

Die Schleife löste sich sofort, als ich an dem einen Ende des Bands zog. Ich hob den Deckel der festen Pappschachtel an. Zum Vorschein kam ein Armband; grazil, silber glänzend und mit einem Anhänger in Herzform.

»Dankeschön«, schniefte ich und fiel Tobias in die Arme.

Er legte seine Hände auf meinen Rücken. Jede seiner Berührungen war sanft, als bestünde ich aus Porzellan und könnte unter dem kleinsten Druck zerbrechen. Tobias gab mir das Gefühl, etwas besonderes zu sein. Jemand, für den es sich lohnte, die Buchhaltung noch eine Stunde nach hinten zu verschieben.

Wir lösten uns wieder voneinander, was mir ganz gelegen kam. Es wurde bereits dämmrig draußen und im dunkeln wollte ich heute lieber nicht durch den Wald laufen.

»Ich will noch zu dem Haus meiner Tante gehen.«, erzählte ich und verstaute die Schachtel mit dem Armband in meiner Jackentasche.

Tobias zog den Reißverschluss seines Rucksacks wieder zu und setzte ihn auf. »Wie ist das für dich, wenn du zu dem Haus deiner ... verstorbenen Tante gehst?«

»Ich versuche, nicht darüber nachzudenken.«, sagte ich.

Er kaute auf seiner Unterlippe. »Und wann wird sie bestattet?«

Über die Beerdigung hatten mein Vater und ich noch gar nicht geredet. Nur Elisabeths Wünsche von einer anonymen Bestattung kannte ich, aber ich hatte keine Ahnung inwiefern wir diese umsetzen konnten.

»Falls es dir schwer fällt dorthin zu gehen, kann ich mitkommen.«

Ich stockte. Mit Tobias auf eine Beerdigung zu gehen, war das Allerletzte, was ich wollte. Das konnte ich so nicht zu ihm sagen, doch es war die Wahrheit.

»Das ist nett, aber meine Tante hielt Beerdigungen für schwachsinnig. Sie hat sich eine anonyme Bestattung gewünscht, bei der dann niemand um sie trauert, der sich nicht auch zu ihren Lebzeiten um sie bemüht hat.«, antwortete ich verspätet.

Zögerlich trat ich zur Seite. Tobias schenkte mir ein Lächeln. Wir schwiegen einander an, und ich bemühte mich darum, meinen besten Freund bloß nicht direkt anzusehen. Wie hatte die Stimmung nur so schnell kippen können? Oder war sie bereits heute morgen in der Schule gekippt, ohne dass ich es mitbekommen hatte?

»Ich halte dich auf.«, sagte er. »Du willst ja eigentlich zu dem Haus deiner Tante.«

»Ja ... Es wird auch schon dunkel.« Meine Antwort klang notgedrungen. Das schien Tobias nicht aufzufallen. Er schulterte seinen Rucksack, als wäre nichts gewesen und sah über die merkwürdige Stimmung zwischen uns beiden hinweg.

In diesen Momenten fiel mir wieder ein, wo er herkam. Er benahm sich wie sein Vater wenn eine Situation unangenehm wurde, und genau das war es, was mich nervte. Plötzlich wirkte er so erwachsen und formell, und benahm sich, als würde er über diesen Dingen stehen, die zwischen uns geschahen. Mein gesamter Körper fühlte sich erschöpft davon an. Ich spürte eine unerwartete Wut in mir aufsteigen.

»Bis morgen.«, murmelte ich, bevor ich explodierte und dem Verlangen, Tobias meine Meinung zu sagen, nachgeben würde. Schließlich hatte ich es ihm versprochen: Keine Gespräche über die Zukunft. Als gäbe es dieses Thema nicht, und als wären seine Eltern Luft. So, wie er es wollte.

Tobias hob seine Hand, und ich dachte schon, er wolle sich mit einem Händedruck verabschieden, als er mir kurz zuwinkte. »Bis morgen«

Elena - Dem Bösen so nahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt