Quiescent |19|

562 40 16
                                    

Quiescent
Adjective | Meaning:
a quiet, soft-spoken soul

Die Gereiztheit in Jisungs Kopf wollte sich entladen. Woher sie stammte, wusste der Blonde nicht. Sie war einfach da. Er klatschte sich einmal auf die Wange und schob seinen Stuhl zurück, um etwas Abstand zwischen sich und seinen Hausaufgaben zu schaffen. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für ein paar Kekse. Felix hatte bestimmt welche gebunkert. Er spazierte in die Küche und begegnete Minho und Jeongin. Letzterer spielte gerade an seinem Handy, während Minho ihn aufmerksam musterte. Nachdem er einige Schränke durchwühlt hatte, war er fündig geworden. Die Packung kleiner schwarzer Kekse mit Schokoladenfüllung sprangen ihm direkt in die Augen. Er nahm sie und riss kurzerhand das Pappgehäuse auseinander und steckte sich davon ein paar in den Mund. Als er sich wieder umdrehte, waren die Augen des Braunhaarigen immer noch auf ihm gerichtet.
"Ift wash?", fragte der Blonde mit vollem Mund, was dem Vampiren scheinbar amüsierte, denn seine Augen funkelten voller Schalk. Im nächsten Moment war er ernst. Jisung fragte sich jedes Mal, wie Minho das machte. Er selbst brauchte immer eine Weile, um wieder seriös zu werden.
"Wie hälst du diesen Schmerz aus? Dieses Leiden, dass dich immer durchzieht?"
Bei dieser eigentlich harmlosen Fragen überkam Jisung ein Gefühl der Wut. Er stand auf und stampfte zur Tür, doch Minho ließ ihn nicht ziehen. Er war schon den ganzen Tag so wütend, ohne Grund, ohne das irgendwas passiert war. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass seine Mutter immer noch hier war, vielleicht aber auch, weil ihn alle anderen in seinem Klassenraum, im Schulflur, in der Cafeteria mieden, weil sie wussten, dass er der Sohn der Vampirkönigin war und sie somit alle vernichten könnte. Es war, als hätte sich eine unüberbrückbare Distanz gebildet, weil er krank, ein Mensch und dazu noch mit dem mächtigsten Wesen der Erde verwandt war. Er hasste es. Er hasste sich. Er hasste alles.
"Lässt du mich bitte durch?", verlangte er von dem Vampiren. Jedoch bewegte sich Minho kein Stück. Im Augenwinkel sah der Blonde, wie Jeongin die Stirn kraus zog.
"Beantworte meine Frage."
Jisung verdrehte die Augen. So langsam kochte die Wut in ihm hoch, dass es schon nicht mehr erträglich war. Er ballte die Hände zu Fäusten. Minho bemerkte das natürlich, allerdings trat er nicht zur Seite.
"Ich habe keine Ahnung, was mit dir los ist, aber KANNST DU MICH BITTE IM RUHE LASSEN?"
Eigentlich wollte der Blonde nicht laut werden, dass wollte er nie wieder tun, aber diese Wut in ihm hatte erneut die Macht übernommen. Mit seiner freien Hand schob er den Braunhaarigen zur Zeit, der ihn gewähren ließ. Vielleicht hatte ihn Jisung aus der Fassung gebracht, dass er ihn so leicht wegschieben konnte, oder er hatte endlich verstanden, dass er nicht in der Stimmung war über seine Krankheit zu sprechen. Im Gemeinschaftsraum kam ihm ein besorgter Chan entgegen, dem Hyunjin und Felix folgten. Jisung schüttelte nur den Kopf und suchte das Weite. Seine ersten Überlegungen wollte ihn in den Garten von Namjoon führen, was für ihn nicht in Frage kam, da er wahrscheinlich anwesend war, genau wie Jin. Und diesen beiden wollte er nicht begegnen. Zumindest nicht jetzt, wo er wütend und traurig und sauer und geschockt und alles mögliche war. Lieber wollte er allein sein, also zog ihn eine unsichtbare Macht in die Bibliothek. Bei seiner Ankunft stellte er fest, dass niemand da war. Er hatte also die dreistöckige Halle für sich alleine, was großartig war, da er seinen Frust in den Büchern ertränken konnte. Jisung bestieg die ersten beiden Etagen mühelos. Die Dritte wurde schon zu einer Herausforderung. Manchmal verfluchte er sich selbst für seine Ideen, die meistens nicht gut durchdacht waren. Irgendwo in der hintersten Ecke ließ er sich nieder. Er las sich die Bücherrücken durch und atmete tief ein und aus, um seine Atmung unter Kontrolle zu bringen.
Experimente an Menschen Bd. 2
Wie wird man ein Vampir?
Operation, um sich in einen Vampiren zu verwandeln
Was waren das für Titel, fragte sich Jisung und schüttelte den Kopf.
Das war doch nicht normal.
"Warum hast du Minho so angefahren, als er dich auf deine Krankheit angesprochen hat?", wollte Seungmin wissen. Jisung zuckte zusammen und drückte den Schrei, welcher in seiner Kehle steckte zurück.
Sein Ton klang weder vorwurfsvoll noch wütend, sondern einfühlsam. Verständnisvoll. Er kam auf den Blonden zu und setzte sich neben ihn an das Bücherregal.
Jisung starrte an die Decke, während er merkte, wie die Gereiztheit wieder in seinen Kopf stieg.
"Weil ich eine Last bin, okay? Und ich es nicht abwarten kann zu sterben. Weil ich meiner Mum und meinem Dad so viel Kummer bereitet habe und es immer noch tue", brüllte er beinahe. Er seufzte und senkte den Blick. Leise entschuldige er sich, was Seungmin hörte, aber unbeantwortet ließ. Der Braunhaarige ahnte, dass da noch etwas kam und bestärkte den Jungen ohne Worte weiterzusprechen.
"Ich bin krank, aber ich möchte es nicht sein. Ich möchte, dass es endlich vorbei ist", murmelte er und der Vampir merkte an seiner Stimme, wie müde er war. Er legte einem Arm um ihn und drückte den Blonden an sich. Jisung fiel in diese wärmende Umarmung hinein.
"Es soll endlich niemand mehr seinen Tagesablauf nach mir richten müssen, mich zum Arzt fahren oder im Krankenhaus auf mich warten. Ich möchte mein Leben nicht verschwenden, denn so fühlt es sich nämlich an, dass diese Krankheit mich ausmacht, mir all die Freude am Leben nimmt, die ich gern hätte und, und, und", er suchte fieberhaft nach den passenden Worte. Ihm wollten beim besten Willen keine einfallen und er fing an hysterisch zu lachen. Was war los mir ihm? Konnte er nicht wenigstens ein paar normale Sätze zusammenbauen?
"-es ist so niederschmetternd und anstrengend und ermüdend. Und ich möchte das alles vorbei ist", hauchte er und legte den Kopf in den Nacken, um seine Tränen zurückzudrängen.
"Weine, los. Das ist keine Schande. Ich bin hier um dich zu halten."
Seungmins Worte drangen bis in sein kaputtes, elendes, verdammtes Herz.
Und dann war es um ihn geschehen. Die Tränen bahnten sich einen Weg nach unten, über seine Wangen, seinem Kinn und den Hals entlang. Es waren so viele und er unterdrückte jeden noch so kleinen Laut, der über seine Lippen brechen wollte. Hier konnte er nicht die Kontrolle verlieren.
"Lass alles raus. Es ist egal. Mach dich frei", hörte er Seungmin murmeln und Jisung ließ es zu. Und er weinte und grollte und jaulte durch die Bibliothek und es war ihm egal, dass jemand sie hörte. Es war ihm alles egal. Warum konnte er nicht normal sein? Nicht gesund sein? Nicht jemand anderes sein? Warum hatte er ausgerechnet dieses Leben erwischt, wo alles so schwer und niemals leicht war? Wo alles nur ein Berg war und er den Berg nicht erklimmen konnte?
Er konnte sich irgendwie denken, dass Seungmin sie mit seiner Magie abschirmte, damit kein Laut hinausdrang. Damit er in Ruhe alles rauslassen und ihn niemand dafür fertig machte. Denn manchmal musste alles raus, um wieder irgendetwas spüren zu können. Als er keine Träne und keinen Laut und keine Luft mehr übrig hatte, fühlte er sich ein bisschen besser.
"Manchmal fühlt man sich nicht so, als wäre nichts gewesen, sondern einfach nur besser", sagte Seungmin und Jisung nickte nur träge.

_____________________________________________

Guten Abend, meine lieben Leser und Leserinnen!

Das Kapitel liegt mir sehr am Herzen, einfach, weil es auch meine Gefühlswelt mit meiner Krankheit widerspiegelt. Und auch diese Stimmungswechsel sind ein Teil davon. Manchmal ist man grundlos wütend und traurig und sauer.
Aber davon sollte man sich keinesfalls runterziehen lassen.
Es ist vollkommen okay.

Feel free to comment!

Erin🌸

Cordolium {Minsung}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt