Stunde 7

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Noch immer schweiften die Worte von Inspektor Megure an ihm vorbei wie Luft. Es war, als wenn er sie nur abgeschirmt hören würde.
Mit seinen weit aufgerissenen Augen starrte der Detektiv immer noch auf die Straße, wo er noch vor ein paar Sekunden ein Auto hatte reinfahren sehen. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf rein. Sie hatten Kaito und seine Entführer ein paar Meter vor ihrer Nase gehabt. Und jetzt waren sie einfach so weg. Jetzt waren sie wieder bei Null.
Nein, das stimmte nicht. Sie waren nicht komplett wieder bei Null. Immerhin hatten sie das Gesicht von einem der Entführer gesehen. Wenn es auch bei Shin'ichi und Megure nur kurz gewesen war, so hatte doch der Polizist, der mit dem einen Entführer gesprochen hatte, das Gesicht viel länger gesehen, könnte es vielleicht auch besser beschreiben und so identifizieren.
Es gab noch Hoffnung.
Und trotzdem...
Shin'ichis Miene verfinsterte sich zu einem traurigen Lächeln. Die Fragen, die ihn vorhin schon geplagt hatten kehrten zurück und mittlerweile zweifelte er daran, dass sie Kaito finden würden. Auch, wenn er am liebsten weiter gearbeitet hätte und ihn verfolgen würde, zog ihn in diesem Moment die komplette Situation hinunter.
Warum hatte er denn nicht sofort reagiert, als einer der Entführer sich so komisch benommen hatte und keine Anstalten gemacht hatte, sich der Polizei gegenüber kooperativ zu verhalten? Warum hatte er einfach nur still da gestanden? Warum...?
Er verstand es nicht.
Während er so über sein Verhalten und die Situation nachgrübelte, riss der nächste Satz von Megure ihn erst einmal wieder aus seinen Gedanken.
„Fahren Sie bitte zurück zum Haus des vermissten Jungen", sprach Megure den Fahrer an. „Und geben Sie sofort eine Fahndung nach dem Fahrzeug raus! Diese Menschen sind zu allem fähig. Sogar dazu, Menschen zu foltern."
Bei dem letzten Satz zuckte Shin'ichi leicht zusammen und verschränkte reflexartig die Arme ineinander. Mit dieser Art von Schutzhaltung lehnte er sich in seinen Sitz zurück.
Er wusste genau, dass Megure ihn damit meinte und bei dem Gedanken daran, schauderte es ihm. Auch jetzt, in diesem Moment, überkam ihn wieder eine Gänsehaut.
Zwar hatte er es niemandem gesagt, doch mittlerweile konnte er sich wieder daran erinnern, warum die Leute von damals ihn gefoltert hatten.
Damals war es knapp zwei Wochen her, seit sie von ihrer Gefangennahme wiedergekommen waren, als er eines nachts davon geträumt hatte und dieses silbern glänzende Messer über seinem Gesicht hatte schweben sehen. Mit Schrecken war er dann aufgewacht und hatte nass geschwitzt im Bett gelegen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er hatte sich panisch umgesehen, ob jemand in seinem Zimmer wäre, als danach alle Erinnerungen scharf gestochen zurückkamen.
Sie hatten ihn gefragt, was es mit Kaito auf sich hatte. Ob er irgendetwas über die Organisation wüsste und dass er noch dafür bezahlen würde, sich mit ihnen angelegt zu haben. Sie hatten Kaito und ihm die Schuld für die Zerstörung an ihren Familien gegeben, da diese nun von ihren Taten erfahren hatten und teilweise von der Organisation auch umgebracht wurden.
Sie hatten ihn angeschrien und er hatte ebenfalls geschrien. Aber vor Schmerzen.
„Shin'ichi, ist bei dir alles in Ordnung?", riss Megures Stimme ihn ein weiteres Mal aus seinen Gedanken und er schaute langsam zu dem Gesicht des Inspektors, der nun nach hinten sah und auf dessen Stirn sich langsam aber sicher eine Sorgenfalte bildete. „Du bist heute viel in Gedanken. Hat dich vielleicht die Grippe erwischt, die momentan rum geht? Du siehst ziemlich blass aus."
„Mir geht es gut", verneinte Shin'ichi so die Frage von Megure und starrte nun wieder aus dem Fenster, als sich das Fahrzeug langsam in Bewegung setzte, in jene Richtung, aus der sie vorhin noch gekommen waren.
Innerlich seufzend drehte Megure sich wieder nach vorne. Sobald sie wieder beim Haus von Kaito Kuroba waren, musste er Shin'ichi aus dem Fall heraushalten. Jedoch war er ein wichtiger und nützlicher Berater. Und der einzige, der mit dem entführten Jungen noch telefoniert hatte.
Trotzdem ging es nicht. Er brachte den Jungen damit noch um den Verstand. Langsam verstand Megure, was Shin'ichi zu bedrücken schien.
Es schien schneller als auf der Hinfahrt zu vergehen, obwohl sie langsamer fuhren. So schien es für Shin'ichi. Er wollte nicht zurück. Er würde sich damit von ihm entfernen. Und das schmerzte.
Kaum, dass das Auto gehalten hatte und Shin'ichi wieder den Blick auf das Haus von Kaito warf, sah er Aoko herausstürmen. Auf dem Gesicht des Mädchens lag immer noch ein besorgter Ausdruck. Wie auf Kommando kamen der Kloß im Hals und der Stein auf seinem Herzen wieder.
Die Türen des Autos öffneten sich und die drei Insassen traten heraus. Alle drei hatten ernste Mienen aufgesetzt. Während der Fahrer sich zu den anderen Kollegen direkt begab, hielt Aoko Megure und Shin'ichi auf.
„Wo ist Kaito?", fragte Aoko und blieb vor den beiden stehen. Langsam sah sie von dem einen zu dem anderen. Als keiner etwas sagte erhob Megure das Wort.
„Wir hatten die Entführer gefunden, doch sie sind geflüchtet. Als wir ihnen hinterher sind, haben wir sie in einer Seitenstraße verloren."
„Was...?", flüsterte Aoko und sah Shin'ichi ungläubig an, so als wollte sie, dass er ihr sagte, dass es nicht so wäre. Dass sie Kaito gefunden hätten.
Doch er wandte nur den Blick ab.
Ihre Augen waren weit aufgerissen.
„Keine Sorge", antwortete Megure. „Wir haben bereits eine Großfahndung veranlasst und sind nun dabei, die Stadt teilweise abzusperren. Früher oder später werden wir sie finden."
Aoko nickte langsam.
„Hat dein Vater in der Zwischenzeit noch etwas herausgefunden?", fragte Megure sie nun, um sie von der Enttäuschung und dem verlorenen Hoffnungsschimmer ablenkte.
„Ja, und zwar Fingerabdrücke, die nicht von Kaito stammen", antwortete Aoko. „Die Spurensicherung hat sie am zerbrochenen Fenster gefunden. Sie vermuten, dass diese vom Täter stammen und haben sie bereits ins Labor geschickt."
„Sehr gut, das könnte uns einen großen Schritt weiterbringen", meinte Megure. „Ich würde gerne mit deinem Vater sprechen."
Das Mädchen nickte und ging zusammen mit Megure in das Haus hinein. Shin'ichi blieb noch stehen und starrte auf den Boden, bis er ihre Schritte nicht mehr hören konnte. Dann sah er auf. Und er wusste, dass er im Krankenhaus damals lieber hätte schweigen sollen.

24 Stunden ohne Kaito KIDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt