Stunde 20

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Er lief auf einer langen, dunklen Straße. Immer bedacht, auf dem Weg zu bleiben und ja keinen Schritt zurückzumachen. Wo er war, wusste er nicht. Er wusste nur, dass er hier irgendwie wegkommen musste. Und, dass am Ende des Weges ein Ort mit viel Licht sein musste. 
Wie blind irrte er durch die fast vollkommene Dunkelheit. Nur vereinzelt erschienen kleine Lampen vor ihm um ihm den Weg durch die Finsternis zu leiten. 
Mit brennenden Lungen und wunden Füßen eilte er weiter. Keine Ahnung, wie lange er schon am Laufen war. Es schien so, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken oder gegessen. Geschweige denn, eine Pause von seinem immer noch andauernden Marsch zu machen. Er versuchte sich umzublicken. Doch auch jetzt, zum gefühlt hundertsten Mal, scheiterte er wieder. 
Er drehte seinen Kopf wieder nach vorne und plötzlich strahlte ihn etwas helles an. 
Ein schrilles Piepen ertönte ebenfalls an seinem Kopf und begann, seine Nerven zu reizen.

Grummelnd wachte Kaito auf und realisierte, wer der Störenfried war. Sein Wecker, der unaufhörlich weiter schrillte, griff sein Gehirn an und wollte es dazu bewegen, seinem Körper zu sagen, dass er endlich aufstehen sollte. 
Ehe er realisierte, was er tat, war auch schon eine Hand unter der Bettdecke hervorgeschnellt und hatte der nervtötenden Technik den Gar ausgemacht. Klappernd fiel dieser hinunter um eine letzte Rebellion zu starten. Doch auf dem Boden blieb er liegen und gab keinen Mucks mehr von sich. 
Genervt starrte Kaito, auf dem Bauch liegend, an die Wand neben ihm. Er hätte echt gerne gewusst, was noch in seinem Traum passiert wäre. Er hätte sogar ausschlafen können, doch das war, dank dem Wecker, den er vergessen hatte auszustellen, nun nicht mehr möglich. Irgendwie war ihm unwohl, wenn er daran dachte, was noch alles im Traum hätte geschehen können. Und es bereitete ihm Kopfzerbrechen. 
Er drehte seinen Kopf auf die andere Seite und blinzelte in das Licht der langsam aufgehenden Wintersonne hinein. 
Seufzend beschloss er, aufzustehen. Er hob den Wecker auf und warf einen Blick auf die Uhr. Dafür, dass es schon halb zehn war, hatte er den Störenfried schon eine ganze Weile nicht gehört… Aber es konnte ihm auch egal sein. Mittlerweile war es Wochenende und er brauchte seinen Schlaf. 
Aoko hatte ihn überredet, mit auf ihren Einkaufsbummel vor Weihnachten zu kommen und die besten Geschenke für ihren Vater und ihre Freundinnen auszusuchen. 
Kaito hatte nur leicht genervt zugestimmt. Nachdem er vor knapp einer Woche die Abfuhr von Shin’ichi bekommen hatte, war er immer noch ziemlich niedergeschlagen und aufgewühlt von der ganzen Angelegenheit. Und als ob das nicht schon gereicht hätte, hatten Sonokos Antworten auf seine Fragen damals in der Straßenbahn die Situation nicht verbessert. Im Gegenteil. Es hatte ihn noch mehr aufgewühlt und er wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Doch das ließ nicht aus, dass er immer noch wütend auf Shin’ichi war. 
Kopfschüttelnd verdrängte er den Gedanken an den Jungen, der ihm keine Ruhe mehr ließ und konzentrierte sich darauf, was vernünftiges aus dem Kleiderschrank zu zaubern und nicht irgendeinen Pullover mit Rentieren drauf, den seine Mutter für ihn gekauft hatte und er jetzt ganz in Gedanken versunken hervorgezogen hatte. 
Nach einer guten halben Stunde, in der er geduscht und gefrühstückt hatte, stand er vor der Tür und zog seine Schuhe an. Dann machte er sich auf den Weg zum Einkaufszentrum. 
Während er so in der Straßenbahn saß, dachte er an das Gespräch mit Sonoko zurück und schaute auf sein Handy. Keine neuen Nachrichten.

-Flashback-

„Du machst dir Sorgen um Shin’ichi, oder?“, fragte Sonoko auf einmal plötzlich. „Ihr habt damals im Sommer nach der Entführung schon so vertraut gewirkt und euch Sorgen um den jeweils anderen gemacht.“
Kaito war verblüfft, wie gut sie beobachten konnte. 
„Das stimmt schon irgendwie“, gab er zu und starrte leicht an Sonokos Gesicht vorbei. 
„Na dann pass mal auf, ich hab zufälligerweise ziemlich viel Kontakt zu Shin’ichi“, sagte sie und setzte ein triumphierendes Lächeln auf. „Ich könnte dir ab und zu mal Bescheid sagen, falls was mit ihm sein sollte. Gib mir dein Handy und ich speichere dir meine Nummer ein.“
Kaito beäugte sie erst komisch. Das letzte Mal, als er Sonoko gesehen hatte, hatte sie versucht, ihn in seiner Kaito KID Gestalt anzuhimmeln, was aufgrund der Entfernung, die zu dem Zeitpunkt zwischen ihnen lag, nicht ganz so einfach gewesen war. Er konnte nicht darum umherkommen zu denken, dass auch das jetzige Gespräch dafür da war, nur an Kaitos Nummer zu kommen. Und dennoch… Es war schon eine gute Gelegenheit.
„Na schön“, stimmte er schließlich zu und überreichte ihr sein Handy.

So im Nachhinein war es schon ziemlich komisch, was er da abgemacht hatte. Immerhin sah es so aus, als wenn er Shin’ichi nachspionieren wollte. Aber sein Verhalten machte ihn immer noch stutzig und nach Sonokos Worten war alles nur noch verschwommener geworden.
Immer noch in Gedanken versunken betrat er das Einkaufszentrum als sein Handy sich meldete.
„Kaito, ich bin in bei den Handtaschen“, murmelte der Oberschüler vor sich hin, schloss Aokos Nachricht wieder und machte sich auf den Weg zu seiner Sandkastenfreundin. 
Als er gerade auf der letzten Rolltreppe war, klingelte sein Handy erneut und er beeilte sich, die Nachricht zu öffnen. Sie war von Sonoko.

>>Shin’ichi ist heute von zuhause weggegangen in Richtung Innenstadt. Es schien so, als wollte er in den Einkaufsbezirk nahe dem Hauptbahnhof. <<

Kurz fröstelte Kaito kurz. Das war genau dort, wo er jetzt auch war. Leichtes Unwohlsein beschlich ihn bei dem Gedanken, er könnte hier auf ihn treffen. 
Doch dann schüttelte er den Kopf. Wie wahrscheinlich war es, dass er bei all den Menschen hier ausgerechnet auf Shin’ichi treffen würde? Und dann in diesem Einkaufsviertel. Es war riesig, da es nahe am Bahnhof lag und gleichzeitig eine Verbindung zum Tokyo Tower gab. 
Aber er musste feststellen, dass es doch wahrscheinlich war. Als Kaito um die Ecke bog und in ein Café blickte, blieb er abrupt stehen und sah Shin’ichi dort stehen. Lächelnd. Fröhlich. 
Und was sein Herz am meisten zerschmetterte war, dass er dort nicht alleine stand. Sondern mit jemandem zusammen.
Zusammen mit Aoko.

24 Stunden ohne Kaito KIDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt