Stunde 18

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Nachdem Shin'ichi alle Sachen zusammen hatte, die er für die nächsten Tage brauchte, machte er sich wieder auf den Heimweg. Alles gut in zwei Tüten verstaut beeilte er sich auf dem Weg, damit seine Hände nicht noch abfroren.
Es hatte in den letzten Tagen stark abgekühlt und er hätte nicht gedacht, mal wieder so kalte Tage in Tokyo zu erleben. Die letzten richtigen Wintertage lagen Jahre zurück.
Doch auch, als er sich beeilte, brauchte er immer noch eine halbe Stunde um nach Hause zu kommen. Auf den letzten Metern suchte er bereits den Schlüssel für das Tor heraus. Doch so steif, wie seine Finger durch die kalte Luft waren. Er ärgerte sich gerade sehr darüber, dass er heute Morgen keine Handschuhe mitgenommen hatte.
Nun dauerte es zweimal so lange, bis er das Tor und auch die Haustür aufgeschlossen hatte.
Seufzend schaltete er das Licht an, legte den Schlüssel an die Seite und betrat das Haus. Sein Blick richtete sich sofort auf den blickenden Anrufbeantworter auf dem kleinen Schränkchen. Er stellte die Einkäufe kurz ab und hörte sich die Nachricht an.
„Hallo Shin'ichi... hatschi! Entschuldige bitte", kam es aus dem Anrufbeantworter. Ganz klar Ran. „Ich wollte mich nochmal bedanken und fragen, ob wirklich alles in Ordnung mit dir ist. Du wirktest irgendwie bedrückt heute Nachmittag und... und... hatschi! Tut mir leid... Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass du dich ruhig bei mir melden kannst, falls etwas nicht stimmen sollte."
Ein Klacken und die Aufnahme war beendet. Shin'ichi musste lächeln. Das war typisch Ran. Sie merkte immer gleich, wenn etwas nicht stimmte und bot einem ihre Hilfe an. Doch irgendwie musste er dennoch über ihr Verhalten schmunzeln. Auch jetzt, wo sie selber Hilfe brauchte, bot sie ihre den anderen an.
Seufzend zog er die Schuhe und die Jacke aus und brachte die Einkäufe in die Küche. Seine Hände wurden aber immer noch nicht so ganz warm und er beschloss, sich noch eine Weile in die kleine private Bibliothek seines Vaters zu verziehen. Selbst im Winter war es dort immer gemütlich warm.
Also machte er sich noch schnell etwas Warmes zu trinken und lief in sein Lieblingszimmer des Hauses.
Er öffnete die Tür und schaltete das Licht. Plötzlich stoppte er abrupt und hätte beinahe seine Tasse losgelassen. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung und sein Herz fing wie wild an zu klopfen. Schluckend öffnete er seinen Mund und wollte etwas sagen, doch er bekam keinen Ton raus.
„Ich kann echt nicht verstehen, wie du so sehr von Sherlock Holmes fasziniert sein kannst", sagte Kaito grummelnd und blätterte in einem Buch herum. Er saß auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch und sah nicht auf. „Diese ganzen Aufklärungen zerbrechen einem ja den Kopf, so viel muss man dabei denken."
Shin'ichi stand immer noch perplex im Türrahmen, doch mittlerweile fand er wenigstens die Worte, um etwas zu sagen.
„Was machst du hier?", fragte er leise. Er versuchte desinteressiert zu klingen, doch das gelang ihm überhaupt nicht.
„Wie unhöflich", sagte Kaito dann, legte das Buch an die Seite und stand auf. Er hatte wieder diese Kaito KID Stimme aufgesetzt und der Detektiv meinte sogar, dasselbe Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen. „Da kommt man extra mal vorbei um den berühmten Oberschülerdetektiv zu besuchen und man wird so begrüßt." Er seufzte theatralisch.
Der Hausbesitzer zog eine Augenbraue hoch.
„Was soll ich denn sonst sagen, wenn ein ehemaliger Dieb in dem Sessel meines Vaters sitzt?", stellte Shin'ichi fest.
„Naja, ein Hallo wäre nicht schlecht", überlegte Kaito und sah Shin'ichi nun endlich in die Augen.
„Hallo", erwiderte Shin'ichi. Seine Stimme klang etwas kühl und bitter. Es schmerzte, in Kaitos Augen zu blicken. Trotzdem zwang er sich dazu. Auch, wenn er es sich kaum eingestehen mochte, er hatte diese indigofarbenen Augen schon vermisst.
Jetzt verfinsterte sich auch Kaitos Miene. Sie war ebenfalls eine Mischung aus Kälte und Bitterkeit. Aber in ihr lag auch irgendwie... Trauer.
„Ich kann es dir nicht übel nehmen, ganz ehrlich", sagte er und man hörte die Schuld in seiner Stimme deutlich heraus. Shin'ichi bemerkte, dass er sich auf die Lippe biss und mit den Worten zu ringen schien.
„Hör zu, es tut mir leid, dass ich mich seit damals nicht mehr gemeldet habe, aber...", fing er an, doch Shin'ichi fühlte jetzt schon den Schmerz und es war ihm lieber, Kaito vorher das Wort abzuschneiden.
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, irgendwie hab ich dich auch ziemlich überrumpelt mit der ganzen Sache", versuchte er sich da rauszureden und starrte nun an die Decke. „Außerdem... ist es gar nicht mehr wichtig..."
Kaito fühlte sich, als hätte man ihm das Herz rausgerissen. Was hatte Shin'ichi da gerade gesagt? Es war nicht mehr wichtig? Was? Warum? Wie konnte das sein? Kaito hatte ihm nie etwas von seinen Gefühlen gesagt, oder hatte er sich...?

Hatte er sich etwa in jemand anderen verliebt?

Kaito atmete ungläubig aus. Er konnte es kaum fassen. Jetzt wollte er endlich mit Shin'ichi reden, gestehen, was er ihm schon eigentlich hätte viel früher sagen müssen und auch, weil er wissen wollte, was gestern mit ihm los gewesen war und dann...
„Nicht mehr wichtig?", fragte er leise und starrte ihn an. Seine Wut, die sich für einen kurzen Moment in sich gestaut hatte, wandelte sich in pure Leere. Er konnte weder traurig noch wütend sein. Da war... nichts mehr.
„Wieso sollte so etwas nicht mehr wichtig sein?", hakte er weiter nach und seine Stimme wurde etwas lauter. Seine Augen blitzen vor Unfassbarkeit.
Shin'ichi schwieg.
Kaito biss sich auf die Lippen und richtete seinen Blick auf den Boden bis er bei Shin'ichi angekommen war. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, als er an dem Oberschülerdetektiv vorbeilief und ihn schließlich hinter sich ließ. Nichts zurücklassend, als einen siebzehnjährigen Jungen in einem eigentlich warmen Raum, der jedoch nun von völliger Kälte, drückender Leere und schwerer Trauer erfüllt war.
Kaito hätte niemals gedacht, dass er, jetzt, wo er endlich bereit war mit Shin'ichi darüber zu reden, eine Abfuhr erhalten würde. Und das so plötzlich. Ohne irgendeine Andeutung...
Wobei das auch nicht ganz stimmte...
Er hatte sich schon die ganze letzte Zeit über so komisch benommen...
Mit einer Träne in den Augen verließ er das Haus.

24 Stunden ohne Kaito KIDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt