Stunde 16

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Shin'ichi schaute auf seine Uhr. Es waren schon zehn Minuten vergangen, seitdem Kommissar Megure zusammen mit Kaito weggegangen war und er nun im Gang stand und auf Aoko Nakamori wartete.
Vorhin hatte er sich schon selber dabei ertappt, wie er den beiden nachgestarrt hatte. Auch Kaito schien es bemerkt zu haben, denn kurz bevor er um die Ecke gebogen war, hatte er leicht die Schultern nach oben gezogen.
Shin'ichi hatte nicht verhindern können, dass ihm danach leicht die Röte in die Wangen gekrochen war. Doch danach hatte sofort das traurige Gefühl in ihm eingesetzt, da Kaito ihm immer noch nicht geantwortet hatte. Und es wahrscheinlich auch nie tun würde.
Mittlerweile war das jedoch auch gewichen und zwar in leichte Unruhe. Warum dauerte Aokos Befragung denn so lange?
„Ah, hallo Shin'ichi", kam eine Stimme von links und verwirrt drehte er sich in die Richtung aus der sein Name gerufen wurde. Sein Gesicht hellte sich auf, als er die beiden Personen erblickte, die auf ihn zukamen.
„Hallo Inspektor Takagi", begrüßte Shin'ichi ihn. Zusammen mit ihm kam Aoko auch auf ihn zu. Ihre ernste Miene verwandelte sich in ein leichtes Lächeln. „Hallo Aoko."
„Hey, schön, dich zu sehen", sagte sie. „Gott sei Dank geht es dir gut. Kaito hat sich schon den Kopf zerbrochen, ob alles in Ordnung war."
„Ja, alles bestens", meinte er. „Kommissar Megure hat mich gebeten, dich nach unten zu bringen, Aoko."
Sie schien erst überrascht, doch dann lächelte sie weiter.
„Das ist lieb", sagte sie. Jetzt musste auch Shin'ichi lächeln.
„Wo ist der Kommissar denn?", wollte Inspektor Takagi wissen.
„Er nimmt gerade Kaitos Aussagen auf", erklärte der Oberschülerdetektiv. „Sie sind vor ungefähr zehn Minuten in einen der Räume verschwunden."
„Dankeschön Shin'ichi", sagte er. „Ich überlasse dir dann Aoko."
Ohne ein weiteres Wort zu sagen drehte der sich um und winkte noch, bevor er ebenfalls zu Kaito und Megure ging.
Etwas überrascht sah Shin'ichi ihm hinterher, drehte sich dann jedoch zu Aoko um.
„Komm, ich bring dich runter", sagte er und wollte sich schon zum Gehen wenden, aber das Mädchen hielt ihn zurück.
„Nein, lass uns hier auf Kaito warten", sagte sie. „Ich gehe dann nachher mit ihm nach Hause. Und außerdem wollte ich noch kurz mit dir reden."
Sie schien sich irgendwie unwohl in ihrer Haut zu fühlen.
„Dann lass uns aber wenigstens nicht hier rumstehen", sagte er und setzte sich auf einen der Stühle an den Wänden. Aoko ließ sich neben ihm nieder.
„Also, worüber willst du reden?", fragte Shin'ichi.
„Ich wollte mich eigentlich nur bedanken", sagte sie und starrte auf ihre Knie. „Weißt du, du hast Kaito gerettet und ihn auch beim letzten Mal irgendwie beschützt. Dank dir lebt er wahrscheinlich noch."
Sie legte eine kurze Pause ein und atmete tief durch.
„Du fragst dich bestimmt, warum ich dir danke, aber... du hattest irgendwie schon recht, als du mich damals nach Kaito gefragt hattest. Als wir uns das erste Mal unterhalten hatten. Ich mag ihn... wirklich."
Das war der Moment, in dem Shin'ichi dachte, ein Teil seines Herzens würde rausgerissen werden. Dieses Gefühl, als hätte sich jemand diesen Teil rausgeschnitten und in einen See geworfen, damit es ertrank.
Er hatte es ja vermutet. Aber es aus ihrem Mund zu hören war einfach... es war einfach was anderes. Es war nun bestätigt. Und die Wahrscheinlichkeit lag nahe, dass es Kaito dann genauso ging wie diesem nervösen Mädchen neben ihm.
„Aber du darfst das nicht Kaito verraten, ja?", flehte sie, als Shin'ichi keine Antwort gab. „Nein, natürlich nicht", erwiderte der Detektiv schnell. „Mein Mund bleibt verschlossen."
Erleichtert atmete Aoko auf.
„Dankeschön Shin'ichi."
Nach einer kurzen Pause, in der eine peinliche Stille entstanden war, fuhr Aoko fort.
„Sag mal, gibt es bei dir nicht auch jemanden, den du ganz besonders magst?", wollte sie wissen. Shin'ichi sah sie kurz irritiert an, diese Frage war schließlich wie aus dem Nichts gekommen.
Und es war ein weiteres Messer, das sich langsam und quälend durch Shin'ichis Herz bohrte. Dieses Mädchen verstand es, ihn genau da zu treffen, wo es weht tat. Und das, ohne böse Absichten zu haben.
Er war sich nicht sicher. Sollte er ihr die Wahrheit sagen oder doch lieben verneinen?
„Ja", sagte er kurzerhand und wurde leicht rot. „Allerdings glaub ich nicht, dass dieser jemand es erwidern würde."
Peinlich berührt schaute er an die Decke und vermied jeglichen Blickkontakt mit Aoko. Doch das gelang ihm ziemlich schlecht, da das Mädchen sich kurzerhand dazu entschlossen hatte, sich vor ihn zu stellen und somit auf ihn runterstarrte.
„Warum versuchst du es nicht einfach?", fragte Aoko zuversichtlich. „Probieren geht über studieren."
„Naja, weil...", begann Shin'ichi, wurde aber unterbrochen, als er von rechts Schritte hörte und den Gang hinuntersah. Aoko folgte seinem Blick.
„Ach, hallo Kaito", sagte sie.
„Aoko, du bist immer noch hier?", fragte Kaito verwundert, nachdem er die beiden eine kurze Zeit angestarrt hatte.
„Ja, ich dachte, ich warte auf dich, damit wir zusammen nach Hause laufen können", sagte sie und lächelte. „Und Shin'ichi muss ja auch erst in die Richtung, also warum sollten wir nicht alle zusammen gehen?"
Shin'ichi stand nun ebenfalls auf. Doch er fühlte sich alles andere als wohl bei dem Gedanken mit dem Jungen, dem er ein Liebesgeständnis gemacht hatte und dem Mädchen, das auch diesen Jungen liebte, zusammen unterwegs zu sein.
„Eigentlich hab ich nur Aoko Gesellschaft geleistet", sagte Shin'ichi schnell. „Ich muss nämlich noch wohin. Bis dann."
Der Oberschülerdetektiv hob zum Abschied kurz die Hand und verschwand dann in Richtung Ausgang. Nicht ohne Aokos verwirrtem und Kaitos ernstem Blick zu begegnen.
Nur nicht nach hinten sehen, zwang sich Shin'ichi und konnte sich erst etwas beruhigen als er hinter einer Ecke verschwunden war. Dann, ohne den Blick von dem Boden abzuwenden, lief er mit eiligen Schritten nach unten und war froh, als er die kalte Winterluft einatmen konnte. Diese Kälte, die in seine Lunge kam, bezweckte wahre Wunder. Er holte ein weiteres Mal tief Luft und blieb kurz stehen.
Gerade als er seinen Kopf noch einmal umdrehen wollte, überlegte er es sich anders. Würde er das jetzt tun, würde er es mit Sicherheit bereuen. Anstatt ihn also umzudrehen schüttelte er ihn leicht und lief mit eiligen Schritten weiter in die kalte Abendluft hinein.

24 Stunden ohne Kaito KIDWo Geschichten leben. Entdecke jetzt