Erdbeernächte

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Erinnerst du dich noch an unsere erste Erdbeernacht? Damals hat es uns noch nicht lange gegeben. Das heißt, mich schon. Du hattest dagegen gerade erst 22 Sommer erlebt. Weißt du das noch? Nein. Ich kann es in deinen Augen sehen. An deinem hilflosen Blick. Und daran, wie du frustriert die Lippen zusammenkneifst. Dein Körper und deine Erinnerungen wollen dir nicht mehr gehorchen. Aber das ist in Ordnung, mein Herz. Ich weiß genau, wie das ist. Nicht weil ich wüsste, wie es ist, zu altern. Das habe ich mir schon vor langer Zeit abgewöhnt. Alt zu werden, ist eine Qual. Ich wünschte, ich hätte dich davor bewahren können. So wie ich dich immer vor allem bewahrt habe. Nur vor mir selbst konnte ich dich nicht beschützen. Das war schon immer dein Privileg. Genau wie damals, in unserer ersten Erdbeernacht.

Die Nacht ist mild und wie geschaffen für ein Fest.

Ich sage „Fest", aber du hast mir beigebracht, dass es „Fest-ival" heißen muss. Bis heute weiß ich nicht, was eigentlich genau der Unterschied ist, aber ich erinnere mich noch gut daran, dass du damals ziemlich beharrlich gewesen bist. Wenn ich an dein missbilligendes Stirnrunzeln zurückdenke, muss ich immer noch lachen. Weißt du eigentlich, dass ich manchmal absichtlich „Fest" gesagt habe, nur um deine Reaktion zu sehen?

Das Festivalgelände liegt etwas abseits der Stadt. Hinter den Bahngleisen und der leerstehenden Fabrikhalle.

Du weißt schon. Die Halle, die abgerissen werden sollte, aber dann doch nicht abgerissen worden ist. Wegen der brütenden Störche.

Als wir das Gelände betreten, müssen wir unsere Taschen vorzeigen. Ich bin nervös, denn es ist das erste Mal, dass ich mit dir ausgehe. Das erste Mal, dass wir uns gemeinsam unter Menschen wagen. Natürlich werden wir angestarrt. Daran bin ich schon gewöhnt. Doch dieses Mal ist es nicht meine Person, die alle Blicke auf sich zieht, sondern wir. Du und ich. Zusammen. Bevor wir aufgebrochen sind, hast du gesagt, dass dir das Angst machen würde. Nicht weil ich kein Mensch bin, sondern weil ich kein Mann bin.

Hast du eigentlich je bemerkt, dass ich Schwierigkeiten habe, Menschen anhand ihres Geschlechts auseinanderzuhalten? Ich weiß, ich habe das nie erwähnt. Es war mir peinlich. Zum Glück fällt man damit heutzutage kaum auf und ich habe mir schon im 13. Jahrhundert abgewöhnt, aufdringliche Fragen zu menschlichen Geschlechtsteilen zu stellen.

Im Gegensatz zu dir habe ich keine Angst vor den Reaktionen der Menschen. Meine Sorgen sind ganz anderer Natur. Du spürst meinen Kummer, nimmst meine Hand und versprichst mir, dass alles gut werden wird. Und ich glaube dir.

Ich habe dir immer alles geglaubt. Bis auf die Sache mit dem Einbrecher, der unsere ganzen Toffifee-Vorräte geklaut haben soll.

Die Dämmerung liegt wie eine honiggoldene Glocke über der Hügellandschaft. Als wäre die Welt in Bernstein eingeschlossen. Die große Bühne leuchtet wie ein Freudenfeuer. Überall tanzen Lichter und spielt Musik. Es riecht nach Zuckermandeln, Schokobananen und Karamelläpfeln. Du sagst, die Atmosphäre würde dich an deine Kindheit erinnern. Dabei strahlen deine Augen wie Smaragde.

Ich habe deine Augen immer gerne mit Edelsteinen verglichen. Mit Diamanten, Turmalinen, Peridoten oder Malachiten. Aber am Ende kehre ich immer wieder zu den Smaragden zurück. Auch heute haben deine Augen noch diesen edlen Glanz. Du magst denken, dass du deine ganze Schönheit an die erbarmungslos voranschreitende Zeit verloren hättest, dabei hat nur deine Sehkraft nachgelassen. Ich sehe dich jedenfalls noch genauso wie damals. Mit deinen kupferroten Locken, den kecken Sommersprossen und dem abgebrochenen Schneidezahn, den du aus Angst vor dem Zahnarzt nie behandeln lassen hast. Ich sehe dich in deiner ausgebleichten Jeans-Latzhose und dem regenbogenfarbenen Shirt, unter dem sich die Ränder deines BHs abzeichnen. Ich sehe dich mit den aufgekrempelten Ärmeln und den ungleichen Socken, dem mädchenhaften Lachen und dem langsamen Augenaufschlag, der mein Herz jedes Mal ein paar Schläge aussetzen lässt.

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