„Was ...?", hauchte der König.
„Erkennt Ihr ihn nicht?", fragte Edzard, der eine Hand in die gräulichen Haare des Toten gekrallt hatte. Das Gesicht des Mannes war weich und schwammig, mit einer dicken Kartoffelnase und blauen Äderchen in den pockennarbigen Wangen.
„Edzard", murmelte der König und wollte sich erneut in eine sitzende Position stemmen. Doch diesmal reichte seine Kraft dazu nicht aus und er fiel wieder zurück in die Kissen.
„Ihr sagt es", erwiderte der falsche Edzard, ließ den Toten wieder in die Truhe sinken und wischte sich die Hände an der Hose ab. Dann zog er sich Maske und Perücke vom Kopf.
Darunter kamen ein langer, blassblonder Zopf und ein schmales Gesicht mit porzellanweißem Teint zum Vorschein. Anhand der spitzen Ohren war der Fremde zweifellos als Alb zu identifizieren. Vermutlich von den Sturmalben.
Ein vages Gefühl von Ehrfurcht erfasste mich. Noch nie war ich einem Geschöpf vom göttlichen Volk so nahe gewesen.
„Wer seid Ihr?", hauchte der König.
„Mein Name tut nichts zur Sache", sagte der Alb und trat an meinen Käfig heran.
Ich unterdrückte den Impuls, vor ihm zurückzuweichen. Stumm starrte ich ihn an und er starrte auf ganz ähnliche Weise zurück. Seine Augen waren farblos und vollkommen glasklar.
„Ein Lyrenvogel", hörte ich ihn sagen. „Und ein besonders prächtiges Exemplar."
Endlich sagt es mal einer, dachte ich.
„Sie sind im ganzen Land für ihre Singstimme und ihre Klugheit berühmt."
Nur weiter so. Dann werden wir vielleicht Freunde.
Doch im nächsten Moment tat der Alb etwas, das ich nicht erwartet hätte: Er öffnete den Käfig.
„Tiere wie dieses sollten kein Dasein in Gefangenschaft fristen."
„Seid Ihr deswegen gekommen?", fragte der König.
„Nein", antwortete der Alb und trat vom Käfig zurück.
Offenbar erwartete er, dass ich sofort ins Freie kletterte, doch eine seltsame Beklemmung hielt mich zurück. Fast mein ganzes Leben saß ich nun schon auf dieser Stange, blickte durch diese Gitterstäbe. Die Freiheit hatte mich stets gelockt, doch jetzt, wo ich sie haben konnte, schien sie mir gar nicht mehr so begehrenswert zu sein.
„Ich bin gekommen, um zu beenden, was Euer Sohn angefangen hat", ergänzte der Alb.
„Dann hat er mich tatsächlich vergiftet?"
„Die Glocken lügen nicht."
Der Alb nahm das Glöckchen, das der Prinz ihm vor die Füße geschleudert hatte, und hängte es an einen Haken des Betthimmels, wo es höhnisch zu bimmeln begann. Als wollte es den König verspotten.
„Wie ... wie kann das sein ...?"
„Der Wind", antwortete der Alb und ließ seinen Blick zum Fenster schweifen. „Es ist der Wind, der mit uns redet."
Als er das sagte, konnte ich es ebenfalls spüren. Einen sanften Hauch, der mein Gefieder streifte. Vorsichtig streckte ich den Kopf durch die Käfigtür. Der Wind lockte mich. Ich konnte ihn hören. Und fühlen. Das Fenster stand weit offen. Der Regen rauschte einladend. Langsam breitete ich meine Schwingen aus. Meine Sehnen und Muskeln ächzten wie morsche Türangeln.
„Der Wind hat Euch gesagt, was Euer Sohn getan hat. Und dennoch erweist Ihr ihm mehr Mitleid als meiner Schwester damals."
Die Augen des Königs wurden groß. „Eurer Schwester?" Er sah sich um. Vielleicht suchte er nach einer Waffe, um sich zu verteidigen. „Wie geht es Eurer Schwester?"
Der Alb trat an das Bett heran. Seine Miene zeigte in etwa so viel Regung wie die Maske, die er zuvor getragen hatte. „Ihr habt sie geschwängert und zum Sterben zurückgelassen. Was denkt Ihr, wie es ihr geht?"
„Aber sie lebt doch noch?", wollte der König wissen.
„Nein. Sie starb schnell."
„Und das Kind?", krächzte der König.
„Es starb mit ihr."
Der König schien noch etwas sagen zu wollen, doch irgendetwas geschah mit der Luft im Raum. Sie schien dünner zu werden. Viel dünner. Keuchend fasste der König sich an den Hals. Seine Augen quollen ungesund hervor.
Ich schlug mit den Flügeln und glitt auf den seltsamen Winden, die sein Bett umkreisten, zum Fenster.
„Wenn Ihr und Euer Sohn tot seid, wird nichts in dieser Welt mehr an Euch erinnern. Nicht einmal der Wind wird Eurer gedenken", hörte ich den Alb noch sagen, bevor der Regen mich verschluckte.
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Truyện NgắnEine Sammlung meiner Kurzgeschichten. Enthält: PEOPLE SICKNESS (Ideenzauber 2019) Faulig (Ideenzauber 2020) Ein Sommernachtsalbtraum (Sommernachtsträume 2020) Erdbeernächte (Sommernachtsträume 2020) Operation Troy Lyrenvogel (Ideenzauber 2022) Tr...