„Hey, hörst du mich?"
Jemand will mir die Hände von den Ohren ziehen.
Als wäre es ein Reflex, schlage ich um mich.
Die Reaktion darauf ist ein empörtes „Sag mal, geht's noch?"
Ich öffne die Augen und sehe direkt in das Gesicht des hübschen Unbekannten. Er beugt sich über mich, sodass ihm die rostbraunen Locken ungebändigt in die Stirn fallen. Mein Herz schlägt schneller. Und noch schneller, als mir wieder bewusst wird, wo ich mich befinde.
Mein Blick wandert an dem Unbekannten vorbei, doch ich kann nicht viel erkennen, denn um uns herum herrscht trübe Dunkelheit. Keine Musik. Keine Lichter. Keine Bühne. Nur die Sterne und der hellblaue Schein der Venus. „Was ist passiert?"
Der Unbekannte presst sich den Zeigefinger gegen die Lippen. „Psst. Sonst hören sie uns noch."
„Wer?" Leiser wiederhole ich: „Wer?"
„Robin und seine guten Freunde."
Ich stütze mich auf die Ellenbogen und richte den Oberkörper halb auf. Dabei bemerke ich, dass wir nicht alleine sind. Um uns herum liegen die anderen Festivalgäste. Kreuz und quer im platt getrampelten Gras. Für einen kurzen Moment habe ich die Befürchtung, sie könnten kollektiv ohnmächtig geworden sein - vielleicht als Nebenwirkung der bunten Zuckerperlen - aber dann vernehme ich ein lautes Schnarchen.
„Keine Angst. Sie schlafen nur", meint der Unbekannte. Er trägt ein schlichtes weißes T-Shirt mit dem Logo des Festivalveranstalters, das im Dunkeln regelrecht zu leuchten scheint.
„Wer bist du?", frage ich.
„Ich bin Lysander", antwortet der Unbekannte und streckt mir die Hand hin. „Aber alle nennen mich Sam. Warum auch immer."
Ich setze mich ganz auf und nehme seine Hand, die sich warm und etwas schwielig anfühlt. „Hermione." Üblicherweise ist das die Stelle, an der alle komisch gucken und mich fragen, ob ich nach dem Mädchen aus Harry Potter benannt bin, woraufhin ich meist lang und breit erklären muss, dass Hermione von Hermes, dem Götterboten, abgeleitet ist. Doch Sam stellt keine Fragen. Stattdessen späht er zur Bühne hinüber.
„Wieso schlafen denn alle?", flüstere ich.
„Keine Ahnung", antwortet Sam. „Plötzlich sind sie eingeschlafen."
„Nur wir nicht?"
„Sieht so aus."
Ich versuche, meine Gedanken zu sortieren, aber es fällt mir schwer. „Hat das vielleicht etwas mit den Pillen zu tun?"
„Was für Pillen?"
„Kurz bevor das passiert ist, haben meine Freunde seltsame-" Ich stocke. Meine Freunde! Wo sind Lena und Dimi?
Ruckartig schieße ich auf die Beine und taumele los. Dabei irrt mein Blick suchend über die reglosen Umrisse der Schlafenden. Sie bedecken das Gras wie ein dreidimensionaler Flickenteppich. Ich muss aufpassen, wohin ich meine Füße setze, um niemanden zu treten.
Nach nur wenigen Schritten werde ich von Sam eingeholt und herumgezerrt. „Was machst du denn da?", faucht er mich an.
„Ich muss meine Freunde finden."
Sams Blick wandert erneut zur Bühne. „Aber nicht so", zischt er. „Sonst bemerken sie uns noch."
Ich will „Wer?" fragen, aber dann fällt mir ein, dass er mir diese Frage bereits vor einigen Sekunden beantwortet hat. Robin und seine guten Freunde. Wenn ich an die seltsame Band denke, wandert jedes Mal ein eiskalter Schauer mein Rückgrat hinauf. Stecken etwa die Good Fellows hinter dieser mysteriösen Angelegenheit? Haben sie die bunten Schlafpillen mitgebracht und verteilt?
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Shorts
Short StoryEine Sammlung meiner Kurzgeschichten. Enthält: PEOPLE SICKNESS (Ideenzauber 2019) Faulig (Ideenzauber 2020) Ein Sommernachtsalbtraum (Sommernachtsträume 2020) Erdbeernächte (Sommernachtsträume 2020) Operation Troy Lyrenvogel (Ideenzauber 2022) Tr...