PEOPLE SICKNESS - 3

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Montag, 26. Juni 2051, 1:41 Uhr

Patrizia ist wieder in meiner Wohnung. Ich liege mit geschlossenen Augen im Dunkeln und stelle mir vor, ich wäre weit weg von der Erde. Das war früher meine liebste Imaginationsübung: Cäsar und ich allein in einer Raumkapsel irgendwo im Weltall. Patrizia kichert. Sie weiß, was ich denke. Meine Eltern haben dagegen keinen Schimmer. Als ich ihnen von Patrizia erzählt habe, waren sie entsetzt. Nicht darüber, dass sich ein Mensch Zugang zu meinem Reich verschafft hat, sondern über mein Verhalten. Sie glauben mir nicht. Doch nur, weil Patrizia tot ist, heißt das nicht, dass sie nicht in meiner Wohnung sein kann. Sargdeckel sind ja nichts anderes als Türen, die sich nach oben öffnen. Cäsar sagt mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit, ich solle aus dem Bunker fliehen. Und vielleicht ist das gar keine so dumme Idee. In meiner Wohnkapsel kann ich jedenfalls nicht bleiben. Mit jedem Atemzug sauge ich mehr Moleküle ein. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die PEOPLE SICKNESS zuschlägt.

Montag, 26. Juni 2051, 11:32 Uhr

»Hey, Charly«, begrüßt mich Rufus mit schlecht verhohlener Sorge. »Endlich erreiche ich dich. Du hast dich in der letzten Woche ganz schön rar gemacht.« Seine hellbraunen Hundeaugen mustern mich prüfend. »Ist alles in Ordnung bei dir?«

Fahrig streiche ich mir die Haare aus der Stirn und frage mich, ob er vielleicht - genau wie Patrizia - meine Gedanken lesen kann. Es muss so sein. Denn woher wüsste er sonst, wie es mir geht? »Das weißt du doch.«

Rufus stutzt. »Was weiß ich?«

»Dass Patrizia hier war und deine Spieluhr kaputt gemacht hat«, erwidere ich gereizt. »Das war nicht meine Schuld. Ich wollte nicht, dass sie das tut.«

»Moment mal, Moment mal«, stottert Rufus, setzt sich auf seinem Stuhl zurecht und legt die Bastelarbeit, mit der er sich bis dahin beschäftigt hat, zur Seite. Rufus ist Elektrotechniker. Auf seinen Regalen, die ich im Hintergrund erkennen kann, lagern keine Bücher, sondern alle Arten von Werkzeugen, Kabeln, Spulen und sogar einige alte Trafos. Sofort muss ich an Cäsars Fehlfunktion denken, die immer dann auftritt, wenn Patrizia in der Nähe ist. Vermutlich hat Rufus etwas damit zu tun. »Sag' mir, was los ist, Charlotte«, drängt er. Charlotte nennt er mich nur, wenn ich etwas ausgefressen habe. Sonst bin ich Charly oder Lotte. Manchmal auch Naseweis. »Wer ist Patrizia?«

»Ein Mädchen«, antworte ich zögernd. »Sie hat im Nachbarhaus gewohnt. Das mit dem roten Dach. Rot wie...« Ich muss kurz nachdenken, weil mir kein passender Vergleich einfällt. »...das Kleid, das meine Mutter immer anhatte, wenn sie zum Tanzen gegangen ist. Also jeden Sonntag. Auch wenn es geregnet hat. Wobei man im Regen ja am besten tanzen kann, weil einem beim Singen das Wasser in den Mund läuft.« Ich halte inne, weil ich merke, dass ich vom Thema abgedriftet bin. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, warum ich Rufus von meiner Mutter erzählt habe. Die Worte sind mir einfach so herausgerutscht, als hätten sie sich im gleichen Netz verfangen wie das, was ich eigentlich sagen wollte.

»O-kay«, macht Rufus und befeuchtet mit der Zunge seine Lippen. »Wieso glaubst du, dass diese Patrizia bei dir war?«

»Ich kann sie riechen!«, platzt es förmlich aus mir heraus. »Sie riecht nach Hitze.«

Rufus schüttelt den Kopf. »Charly... haben Sie dir nicht gesagt, dass dieser Geruch aus der Lüftungsanlage kommt? In letzter Zeit gab es da ein paar technische Störungen. Genau wie beim Computersystem. Du erinnerst dich doch noch an unser letztes Treffen, oder?«

Ich nicke langsam. Bei unserem letzten Treffen ist ganz plötzlich die Verbindung abgebrochen. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, doch jetzt scheint mir diese Fehlfunktion perfekt ins Bild zu passen. Das Computersystem ist defekt. Cäsar funktioniert nicht richtig. Vielleicht gibt es auch ein Problem mit der Schließelektronik der Türen. Das erklärt jedenfalls, wie es Patrizia gelingen kann, immer wieder in meine Wohnkapsel einzudringen.

»Und das mit der Spieluhr«, fährt Rufus fort. »Das hast du mir schon vor Monaten gebeichtet. Sie ist dir beim Putzen heruntergefallen.« Er beugt sich vor und faltet die Hände auf der Schreibtischplatte. Die blonden Haare stehen ihm wie immer zerzaust vom Kopf ab, aber sein Gesicht kommt mir fremd vor. Ist es wirklich erst eine Woche her, dass wir zuletzt miteinander gechattet haben? »Wie kommst du überhaupt darauf, ein Nachbarskind könnte in deiner Wohnkapsel sein?«

Als er das fragt, bin ich mir sicher, dass er etwas zu verbergen hat. Aus dem Augenwinkel sehe ich Cäsar, der das Gleiche zu denken scheint. Unauffällig nickt er mir zu. »Cäsar hat es mir gesagt.«

»Cäsar?« Der Schreck auf Rufus' Miene ist entlarvend. Zorn ballt sich in meiner Magengrube zusammen. Ich hatte gedacht, es würde mir besser gehen, wenn ich mit Rufus spräche, aber jetzt erkenne ich, dass er hinter allem steckt. Er hat die Fehlfunktionen verursacht. Die Erkenntnis versickert in meinem Körper wie ein plötzlicher Regenguss in durstiger Erde. »Du meinst deine AV-Einheit?«, fragt Rufus und fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Redest du etwa wieder mit ihr?«

Diese Frage verblüfft mich. »Natürlich tue ich das. Du doch auch, oder?«

Rufus späht zwischen seinen Fingern hindurch. »Nein, Charly. Die AV-Einheiten haben keine Sprachfunktion. Sie können dich weder verstehen, noch dir antworten.«

Für einen Moment bin ich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Cäsar ist mein Begleiter. Schon seit ich ein Kind bin. Er hat mich aufgezogen. Mir alles beigebracht. Er organisiert mein ganzes Leben. Wir reden miteinander. Er ist gewissenhaft und höflich. Wir lachen zusammen. »Charly? Hörst du mich?«, dringt Rufus' Stimme in mein Bewusstsein. Aus weiter Ferne. Ich strecke mich und beende die Verbindung. Dann wende ich mich an Cäsar, der mich über seine geschwungene Römernase hinweg angespannt mustert: »Wir müssen von hier verschwinden, Cäsar.«

Montag, 26. Juni 2051, 22:58 Uhr

Ich habe mir vorgenommen, aus dem Bunker zu verschwinden. Gleich morgen habe ich mich für ein Gespräch mit meinem zuständigen Berater eintragen lassen. Es ist nicht verboten, den Bunker zu verlassen. Natürlich grenzt es in gewisser Weise an Selbstmord. Deswegen werden derartige Vorhaben auch immer gut geprüft. Doch ich bin mir sicher, die Verantwortlichen werden Verständnis haben, wenn ich ihnen erkläre, dass Rufus Becker mich umbringen will, indem er mir Patrizia auf den Hals hetzt. Nachdem ich jetzt weiß, dass er auch Cäsar manipuliert hat, vermutlich aus Eifersucht, ist mir endgültig alles klar. Er hat es auf mich abgesehen.

Während ich im Dunkeln liege und auf Patrizias Erscheinen warte, kullert mir eine Träne über die Wange ins Kopfkissen. Ich habe Rufus wirklich gemocht, aber nie verstanden, wieso er gegen meine Freundschaft mit Cäsar war. Noch eine Nacht, sage ich zu mir selbst. Dann bist du frei.

Als urplötzlich ein lautes Klopfen ertönt, schrecke ich auf. Patrizia ist an der Tür. BOM. BOM. BOM. Mit beiden Fäusten hämmert sie dagegen. »Verschwinde!«, rufe ich ihr zu. Mein Herz pocht so laut, dass es kaum von den Klopfgeräuschen zu unterscheiden ist. BOM. BOM. BOM. Es ist, als wollte mir Patrizia ein Zeichen geben, so wie früher, als ich mit meiner Familie durch die Wände unseres Wohnhauses kommuniziert habe. Ich weiß nicht, was sie mir sagen will. »Nun hau schon ab!« Mehr wütend als ängstlich springe ich aus dem Bett und schnappe mir das nächstbeste Buch. Mit einem Knall prallt es gegen die Wand und fällt zu Boden, wo es wie ein toter Vogel mit ausgebreiteten Flügeln liegen bleibt. »Lass mich in Ruhe!«, setze ich nach und werfe ein weiteres Buch. Diesmal treffe ich die Tür. Patrizia antwortet lautstark. BOM. BOM. BOM. Zwischen den Schlägen kann ich sie kichern hören. Ich schnappe mir die Spieluhr und schleudere sie durch den Raum. Sie zerplatzt an der Wand in ihre Einzelteile.

Im nächsten Moment springt die Tür auf und ich sehe mich einem Pulk von Menschen in hellblauen Schutzanzügen gegenüber. Rufus muss sie geschickt haben, weil er nicht will, dass ich ihm entkomme. Heißer Zorn schießt mir durch die Adern. Mit einem Schrei stürze ich mich auf einen von ihnen, um mir den Weg freizukämpfen. 

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