Doch noch ehe ich zu einem Schluss gelangen konnte, öffnete sich die Tür und mehrere Menschen betraten das königliche Gemach. Alle trugen aufwendige Perücken und kunstvolle, bronzierte Masken, die nur ihre Augenpartien freiließen. Der Anblick erinnerte mich daran, dass heute die Sienada gefeiert wurde – das ursprünglich albische Herbstfest, das in jedem Königreich Hertlands auf unterschiedliche Weise begangen wurde.
In der Fermark war es beispielsweise Brauch, seine Sorgen auf einem Stück Luntenpapier zu notieren, es anzuzünden und aus dem Fenster zu werfen, was in den größeren Städten des Landes einen wunderschön anzusehenden Funkenregen zur Folge hatte, aber auch recht häufig zu unkontrollierbaren Brandkatastrophen führte.
In Lyrien war es dagegen Tradition, sich fein herauszuputzen und sein Gesicht hinter einer unheimlichen Maske zu verbergen. Das sollte den bösen Geistern den Spiegel vorhalten, auch wenn ich ernsthaft bezweifelte, dass Niederlinge sich von falschen Fratzen, pompösen Halskrausen und eng geschnürten Männermiedern einschüchtern ließen.
Unsere Besucher versammelten sich am Fußende des königlichen Bettes. Wegen der Masken konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen, aber ich spürte ihre Beklemmung wie eine eiserne Fessel um die Brust. Gerne hätte ich mein Gefieder ausgeschüttelt, um dieses unangenehme Gefühl zu vertreiben, doch ich wollte keine unnötige Aufmerksamkeit erregen. Stattdessen musterte ich unsere Gäste und versuchte, ihre Identitäten zu erraten.
Einer der Männer war ganz zweifellos der Leibarzt des Königs. Ein hoch betagter, krummer Mann mit schlohweißen Haaren und braunen Altersflecken auf den knotigen Händen. Wegen seiner seltsamen, schwankenden und schlurfenden Bewegungen war er leicht zu identifizieren. Und natürlich half es auch, dass er sich als Einziger dem Kopfende des Bettes näherte, um bei seinem königlichen Patienten den Puls zu fühlen.
Dieser wollte sich das jedoch nicht gefallen lassen und scheuchte ihn weg. „Ich bin noch nicht tot, Willem."
„Aber das könntet Ihr sein", erwiderte der alte Mann mit kratziger, geradezu weinerlicher Stimme.
„Dann wird Ihre Majestät sich wieder erholen?", fragte die einzige Frau in der Runde. Auch sie war leicht anhand ihres voluminösen Kleides und ihrer zusammengepressten Brüste zu erkennen. Fräulein Hinrika, die stets kurzatmig klingende Mätresse des Königs.
„Das ... lässt sich noch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber ich bin sehr zuversichtlich", erwiderte der Leibarzt. An den König gewandt, ergänzte er: „Ihr wurdet vergiftet, aber aufgrund Eures königlichen Blutes und Eurer starken Konstitution werdet Ihr diesen feigen Anschlag sehr wahrscheinlich unbeschadet überstehen."
„Na, das sind ja erfreuliche Neuigkeiten", triumphierte der König, auch wenn er noch immer mehr tot als lebendig aussah.
Unwillkürlich fragte ich mich, ob sein Leibarzt die Situation vielleicht ein ganz klein wenig beschönigt hatte, um seinen eigenen Hals zu retten.
Fest stand: Königlicher Leibarzt war in Lyrien keine besonders begehrte Position. Im Grunde war es, als würde man einen randvollen, löchrigen Eimer zu stopfen versuchen. Die lyrischen Herrscher starben einfach schneller, als man mit Tinkturen und Medikamenten dagegen anwirken konnte – und nicht selten gerieten ihre Behandler selbst in Verdacht, die Finger im Spiel gehabt zu haben. Jedenfalls, wenn der König durch ein unbekanntes Gift zu Schaden kam.
Doch die Todesursachen der lyrischen Herrscher waren so vielfältig wie die Farben des Herbstes: erschossen, erschlagen, vom Pferd gestürzt, von einem Berglöwen zerrissen, von einer Kutsche überfahren, aus dem Fenster gefallen ...
Einer war sogar vor meinen Augen mit einem Kissen erstickt worden. Kein sonderlich sympathischer Zeitgenosse. Deswegen hatte ich mich mit Lautäußerungen auch zurückgehalten. Der nachfolgende König hatte es mir mit jeder Menge Lob und Futter gedankt. Vielleicht hatte er geglaubt, ich hätte um Seinetwillen den Schnabel gehalten. Seinen Irrtum erkannte er erst, als er kein Jahr später am selben Ort von einem Meuchelmörder überrascht wurde und ich erneut keine Anstalten machte, die Palastwache zu alarmieren.
Wer war ich denn? Ein Kanarienvogel, der beim ersten Anzeichen von Gefahr tot umzufallen hatte?
„Ah, Edzard ...", machte der König und streckte die Hand nach einem hochgewachsenen Mann aus, der sein Gesicht hinter einer grinsenden, mit Federn und Glöckchen verzierten Maske verbarg. Dazu trug er eine schwarze Lockenperücke und einen dunkelroten Samtmantel mit güldenen Stickereien über einem eierschalenweißen Hemd, schwefelgelbe Kniebundhosen und glänzende Schnallenschuhe. Hinter ihm warteten zwei Diener, die eine reich verzierte Truhe zwischen sich trugen. „Edzard ... ich hätte dich fast nicht erkannt, aber ... du bist gekommen."
„Zur Sienada. Wie vereinbart", antwortete der Angesprochene. Er deutete auf die Truhe. „Und ich habe Euch auch ein Geschenk mitgebracht. Das sollte Euch aufmuntern."
Der König lächelte schwach. Die Innenseiten seiner Lippen wirkte ungewöhnlich rot. „Was für eine Freude, in dieser Stunde einen guten Freund an meiner Seite zu wissen."
Ich erinnerte mich wieder, wann ich den Namen Edzard zuletzt gehört hatte. Er war der Kerl, der dabei gewesen war, als der König laut eigener Aussage die Albin im Lynholt überfallen hatte.
Wann mochte das gewesen sein? Vor oder nach seiner Machtergreifung?
Wenn ich den vielgestaltigen und teils verräterischen Stimmen des Windes glauben konnte, lebten noch immer Alben im Lynholt. Waldalben, die sich dort eine Heimat aufgebaut hatten. Doch auch in Kwylla gab es Alben. Sie lebten in heruntergekommenen Siedlungen am Ufer des Maladian. Und dann war da natürlich noch Albenheim. Ein Zufluchtsort in den Bergen, den die Sturmalben in den Überresten ihrer herabgestürzten Götterwelt errichtet hatten.
Falls die Albin den Überfall überlebt hatte, war sie vielleicht dorthin geflüchtet. Falls.
„Was sollen wir jetzt tun, Eure Majestät?", fragte ein untersetzter Mann, der aufgrund seiner breitschultrigen Statur in ballonartigen Puffärmeln und spitzenbesetzter Halskrause reichlich albern und unförmig aussah. Ich vermutete, dass es sich um Meenhard handelte, den Hauptmann der königlichen Leibgarde. Auch nicht gerade ein beliebter Posten bei Hofe. Aus naheliegenden Gründen.
„Ich sagte es doch schon", erwiderte der König und stemmte sich unter großer Anstrengung in eine sitzende Position. Dabei lief ihm der Schweiß buchstäblich in Strömen über die aschfahlen Schläfen. „Lasst euch das Fest nicht verderben." Er zog eine gequälte Grimasse und wedelte mit einer Hand in der Luft herum, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen. „Nicht von einer kleinen Befindlichkeit."
„Aber Eure Majestät", hauchte der Leibarzt. „Ihr wurdet vergiftet. Das ist doch weit mehr als eine Befindlichkeit."
„Und wenn schon ... unsere Feinde sollen nicht glauben, dass sie uns den Tag verderben könnten. Lasst sie wissen, dass ich ..." Der König atmete tief ein und langgezogen wieder aus. „... dass es mir gut geht ... dass die ankmarische Krone weiterhin Bestand haben wird."
„Seid Ihr sicher?", fragte Meenhard. „Das könnte unsere Feinde zu einem weiteren Anschlag provozieren."
Der König schüttelte den Kopf. „Ich werde mich nicht aus Angst in irgendeinem Rattenloch verkriechen." Er musterte die Anwesenden der Reihe nach. Sein Blick war verschleiert und unstet, wirkte aber wacher als noch vor ein paar Minuten. Grimmig ergänzte er: „Schon gar nicht vor irgendeinem Feigling, der nicht den Mut hat, mir in die Augen zu blicken, wenn er mich tötet."
Einige Sekunden lang herrschte betretenes Schweigen.
Mein Blick fiel erneut auf die mit erlesenen Einlegearbeiten aus Jade, Elfenbein und Perlmutt verzierte Truhe. Was Edzard seinem alten Freund wohl mitgebracht hatte?
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Short StoryEine Sammlung meiner Kurzgeschichten. Enthält: PEOPLE SICKNESS (Ideenzauber 2019) Faulig (Ideenzauber 2020) Ein Sommernachtsalbtraum (Sommernachtsträume 2020) Erdbeernächte (Sommernachtsträume 2020) Operation Troy Lyrenvogel (Ideenzauber 2022) Tr...