Zu meiner Überraschung und obwohl der Arm des Alten zitterte wie ein Blatt im Wind, blieb das Glöckchen stumm.
„Seht ihr?", fragte der Leibarzt, nahm das Glöckchen ab und wedelte damit in der Luft herum. Das resultierende Gebimmel ließ die anderen Anwesenden erschrocken zusammenzucken. „Ich bin unschuldig." Er fuhr herum, hätte dabei beinahe das Gleichgewicht verloren und überspielte sein Missgeschick, indem er sich vor dem König verneigte. „Mit Verlaub, Eure Majestät, ich wende mich jetzt wieder meinen Pflichten zu und besorge Euch eine Suppe. Ohne Gift."
Mit diesen Worten marschierte er davon. Beim Hinausgehen drückte er das Glöckchen der Mätresse in der Hand, die sich als Nächste vom Verdacht des versuchten Mordes reinwaschen wollte. Auch bei ihr blieb das Glöckchen stumm.
Gleiches bei Hauptmann Meenhard und Edzard, der sich ebenfalls der Prüfung unterzog. Vermutlich aus Gründen der Fairness.
Ich fragte mich, ob ich vielleicht auch zu den Verdächtigen gehörte. Oder traute mir niemand zu, dass ich das Gift in den Tee des Königs gestreut hatte? Von meinem Käfig aus wäre mir das problemlos möglich gewesen. Aber natürlich kam niemand auf die Idee, mir das Glöckchen an die Kralle zu binden. Dabei hätte ich wirklich gerne mein Glück versucht.
Als Letztes war der Prinz an der Reihe. Hauptmann Meenhard befestigte das Glöckchen an seinem Finger. Er streckte den Arm aus und beteuerte, seinem Vater niemals Gift in den Tee gemischt zu haben. Und ich konnte es selbst nicht glauben, aber das Unerwartete geschah. Das Glöckchen ließ ein helles Bimmeln erklingen. Vermutlich reagierte es auf irgendein nervöses Muskelzucken, das zu schwach war, um es mit bloßem Auge zu sehen. Oder hier waren andere, deutlich mysteriösere Kräfte am Werk.
Der Gedanke musste dem Prinzen inzwischen auch gekommen sein. „Das ist Humbug", beschwerte er sich. „Ich habe damit nichts zu tun. Wieso sollte ich meinen Vater töten wollen?"
„Na, um selbst König zu werden", keifte Fräulein Hinrika, die sich durch die Glöckchenprobe gestärkt zu fühlen schien. Sie hatte ihre Maske abgenommen und die roten Kringellocken ihrer zweifellos teuren Perücke umspielten ihre fleckig geröteten Wangen. „Oder etwa nicht?"
„Natürlich nicht!", fauchte der Prinz zurück.
„Aber habt Ihr nicht neulich erst behauptet, ein besserer König zu sein?"
„Ihr habt Euren Vater einen verweichlichten Albenfreund genannt", bemerkte Meenhard.
„Und deswegen soll ich ihn vergiftet haben?" Der Blick des Prinzen irrte erneut zu seinem Vater. „Sagt doch etwas!"
Der König hatte noch immer die Augen halb geschlossen. Nur das Lächeln war verblasst.
„Ihr glaubt mir doch, oder, Vater?" Als der König nicht reagierte, schob er hinterher: „Ihr werdet mich doch nicht aufgrund eines lächerlichen Glöckchens für schuldig halten."
Mir kam das genauso absurd vor, aber gleichzeitig reifte in mir die Erkenntnis, dass ich soeben Zeuge von etwas ganz Anderem wurde. Von etwas Größerem. Von etwas, das ich noch nicht begreifen konnte. Ich spürte es in meinen hohlen Knochen. Und ich hörte es im Wind, der das vertrauliche Flüstern des Regens ins Innere des königlichen Gemachs trug.
„Vater ...?", hauchte der Prinz.
Der König hatte die Augen inzwischen wieder geöffnet. Fiebrig und starr, wie eine Wespe im Marmeladenglas, zuckte sein Blick zwischen den Anwesenden hin und her. Seine Lippen waren nur noch ein blasser Strich, seine Augen dunkel unterlaufen. „Meenhard?"
Der Hauptmann nickte. „Ja, mein König?"
„Bringt meinen Sohn in den Kerker. Er wird sich für seine Tat verantworten müssen."
„Was?", keuchte der Prinz, sichtlich entgeistert. Dann wandte er sich an Edzard und schleuderte ihm das Glöckchen vor die Füße. „Ihr wart das ... Ihr habt das eingefädelt. Vermutlich steckt Ihr auch hinter dem Attentat."
Meenhard legte seine Hand auf die Schulter des Prinzen. „Herr Edzard ist erst nach dem Attentat in Kwylla eingetroffen. Dafür gibt es unwiderlegbare Beweise."
„Dann hatte er einen Handlanger", schlussfolgerte der Prinz. Seine Wangen hatten inzwischen die Farbe überreifer Kirschen angenommen. Er fuhr herum und stierte die Mätresse an. „Du? Steckst du mit diesem Kerl unter einer Decke? Was hat er dir geboten? Oder machst du es umsonst, wenn er dich dafür kräftig durchnimmt?"
Fräulein Hinrika holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
Der Prinz wollte sich auf sie stürzen, aber Meenhard verstellte ihm den Weg und verdrehte ihm die Arme. Mir entwich ein leises Gackern. So viel Spaß hatte ich wirklich schon eine ganze Weile nicht mehr gehabt. Schade, dass das Drama so kurzlebig war. Nur wenige Sekunden später hatte Meenhard den zeternden und um sich schlagenden Prinzen zur Tür hinaus bugsiert. Fräulein Hinrika folgte den beiden, um den jungen Mann auf dem Weg durchs Schloss mit Schimpfnamen zu belegen. Und vermutlich auch, um die Neuigkeit unter den Dienstmädchen zu verbreiten.
„Was soll aus ihm werden?", fragte Edzard und bückte sich nach dem Glöckchen. „Wollt Ihr ihn wirklich hinrichten lassen?"
„Wie sicher bist du dir, was diese Prüfung angeht?", erwiderte der König.
Edzard richtete sich wieder auf. „Das Glöckchen sagt, dass er gelogen hat. Aber das muss nicht bedeuten, dass er der Täter war."
Der König lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. „Er ist mein einziger Sohn", hörte ich ihn murmeln. „Aber nachdem seine Mutter starb, habe ich ihm alles durchgehen lassen. Das war mein Fehler."
Edzard ging zur Tür und drückte sie ins Schloss. Dadurch verstummten die Geräusche aus dem Innern des Schlosses und das Rauschen des Regens wurde lauter. „Er hat Euch einen Albenfreund genannt."
Der König schmunzelte. „Ich habe ein paar Alben erlaubt, sich in den Randgebieten der Stadt anzusiedeln."
„Denkt Ihr, dass er Euch deswegen-"
„Mein Sohn ist ein Schlappstrumpf", brummte der König. „Er redet viel, ohne zu wissen, wovon er redet. Und leider hat er sich den Lotrechten angeschlossen. Du weißt schon ..." Seine Stimme schwankte. „Diesen Taugenichtsen, die alle Alben ausrotten wollen, damit die Welt wieder ins Lot kommt."
„Ich habe davon gehört", sagte Edzard und näherte sich der Kiste, die seine Diener neben der Tür abgestellt hatten.
„Morgen werde ich entscheiden, was mit ihm passieren soll. Solange ich noch lebe, gibt es vielleicht noch Hoffnung für ihn." Der König schielte unter seinen halb geschlossenen Lidern hindurch. „Du trägst die gleiche Maske wie damals auf der Sienada. Ansonsten hätte ich dich wohl nicht wiedererkannt. Aber ich hätte auch nicht gedacht, dass ich dich noch einmal wiedersehe. Als du mir neulich geschrieben hast ... ich dachte, nach damals ..."
„Was wir getan haben", murmelte Edzard.
„Sie hatte es verdient", sagte der König rasch. „Sie hat sich uns angeboten."
„Es war nicht richtig."
„Wo ist schon der Schaden? Sie war eine Albin. Ein seelenloser Oberling. Diesen Wesen kann man gar nicht wehtun."
Edzard öffnete den Deckel der Truhe und zerrte etwas heraus, das ich im ersten Moment nicht erkannte. Erst nach einigen Sekunden realisierte ich, was ich da vor mir sah. Einen Mann. Nackt, schlaff und ganz offensichtlich tot.
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Short StoryEine Sammlung meiner Kurzgeschichten. Enthält: PEOPLE SICKNESS (Ideenzauber 2019) Faulig (Ideenzauber 2020) Ein Sommernachtsalbtraum (Sommernachtsträume 2020) Erdbeernächte (Sommernachtsträume 2020) Operation Troy Lyrenvogel (Ideenzauber 2022) Tr...