Lyrenvogel - 1

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„Vogel ...", krächzte der bleiche Mann, der in dem gewaltigen Himmelbett lag und inmitten der vielen bestickten Seidenkissen beinahe zu versinken schien. „Vogel ...", wiederholte er mit schwacher Stimme. Dabei rollte sein Kopf hin und her, als wäre er nur lose auf dem obersten Halswirbel befestigt. Sein Teint war wächsern und Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn. „Hör mir zu, Vogel."

Ich wusste, dass er mit mir redete, auch wenn es klang, als würde er mit Fantasiegebilden sprechen. Es war auch nicht schwer zu erraten. Immerhin war ich der einzige Vogel im Raum.

Einen Lyrenvogel nannten sie mich – in Anlehnung an die alten Götter, die einst über diese Welt gewacht hatten, bevor ganz buchstäblich der Himmel zusammengebrochen war und seine Bewohner in die Menschenlanden gespült hatte.

Schnell hatten die Einheimischen feststellen müssen, dass Vorstellungskraft und Wirklichkeit wenig miteinander zu tun hatten und ihre Götter keineswegs so mächtig und bewundernswert waren, wie sie es sich immer ausgemalt hatten. Fortan nannten sie die Gefallenen Alben und gingen ihnen aus dem Weg oder jagten sie, bis den Göttern nur noch die dichten Wälder und schneebdeckten Bergspitzen blieben, um sich dort vor den Menschen zu verstecken.

Ich verstand nicht viel von Göttern oder Menschen, aber ich empfand Mitleid mit den Alben. Auch mein Volk wurde gejagt. Und auch ich war ein Gefangener.

„Lass mich dir etwas sagen, Vogel", stöhnte der Mann, während er sich weiter unruhig hin und her wälzte.

Ich spähte aus meinem Käfig auf ihn herab. Auch wenn ich nicht viel über Menschen wusste, war mir klar, dass dieses Exemplar sehr krank sein musste. Vielleicht tödlich krank. Jedenfalls wütete hinter seinen glasigen Augen ein zerstörerisches Fieber.

Der nächste lyrische König, der ein frühes Ende findet, dachte ich, ohne großes Mitgefühl.

Zwei Monate waren kaum genug, um sich an einen Menschen zu gewöhnen, und da noch kein König länger als ein Jahr und ein paar Monate in diesem Bett geruht hatte, bevor er von einem unrühmlichen Schicksal ereilt worden war, hielt sich mein Bedauern in Grenzen.

Ich hatte schon viele menschliche Herrscher kommen und gehen – oder besser: schlafen und sterben – sehen. Im Grunde waren sie alle gleich. So gleich, dass ihre Gesichter in meinen Erinnerungen miteinander verschwammen und zu einem konturlosen Klecks von ovaler Form und fleischroter Farbe wurden.

„Ich muss dir etwas erzählen, Vogel", lallte der sterbende König. „Ein Geheimnis."

Bei diesen Worten sah er aus fiebrig glänzenden Augen zu mir herauf, als erwartete er, dass ich ihm zunicken oder einen auffordernden Laut von mir geben würde.

Ich will wirklich nicht prahlen, aber Lyrenvögel waren unter den Bewohnern Lyriens für ihren wunderschönen Gesang berühmt. Wie Lyrennektar für die Ohren, hatte es der große Denker und Philosoph Andemucius einst formuliert, nachdem ich ihm zum Mittwinter vor fünfzehn Jahren eine Kostprobe meines Gesangs gegeben hatte.

Doch jetzt war mir nicht nach Singen. Oder auch nur nach einem kurzen Tschilpen. Abseits prestigeträchtiger Veranstaltungen zog ich es vor, mit meinen Kräften hauszuhalten und meine schweigsame, eher grüblerische und äußerst bescheidene Persönlichkeit zu kultivieren.

Der Sterbende ließ sich davon jedoch nicht abhalten. „Hab ich dir schonmal von diesem Tag im Lynholt erzählt?"

Der Lynholt war ein großer Wald im Südosten der Hauptstadt. An klaren Tagen konnte ich seine Ausläufer vom Fenster aus erkennen. Wie ein grüner Ozean mit wogenden Schaumkronen aus sonnengebleichtem Laub, das im Wind raschelte und knisterte.

Heute war davon jedoch nichts zu sehen. Der Himmel über Kwylla hatte sich herbstlich grau verfärbt und ein leichter Nieselregen sprenkelte die gläsernen Dachkuppeln der königlichen Orangerie, die sich vom Schloss bis zum Ufer der Blauen Gumpe erstreckte.

„Oh, was ein Tag", murmelte der König, fuhr mit der Hand durch die Luft und ergänzte: „Geritten sind wir, Edzard und ich ... wie Teufel über das Land ... und niemand ... niemand konnte ... nicht mal Meenhard mit seinem ... niemand ..." Er schien den Faden zu verlieren. Seine Stimme brach und sein Arm klatschte wie ein toter Fisch zurück aufs Bett. Für einen kurzen Moment wagte ich zu hoffen, dass dies bereits sein letzter Atemzug gewesen sein könnte, doch dann blinzelte er und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Wir hatten gehört, dass im Lynholt Alben wohnen würden", fuhr er fort und klang dabei nicht länger wie jemand, der im Fieberwahn fantasierte. „Aber wir dachten nicht, dass wir ihnen an diesem Tag begegnen würden."

Wieder spähte er zu mir herauf und ich senkte den Kopf, um mein glänzendes, kohlschwarzes Gefieder zu ordnen. Der König sollte nicht denken, dass ich mich für sein Gefasel interessierte, auch wenn ich zugeben muss, dass ich Geschichten über Alben schon immer gerne gehört habe.

„Doch da waren sie", flüsterte der König. „Sie tanzten auf einer Lichtung wie Blütenblätter in einer Sommerbrise." Sein Blick wanderte zum ordentlich drapierten Betthimmel hinauf, doch vor seinem inneren Auge schienen sich Szenen aus der Vergangenheit abzuspielen. Ein weicher, beinahe bedauernder Ausdruck trat auf sein bleiches Gesicht. „So lieblich und anmutig ... mit Haaren wie flüssiges Gold und Augen so klar als bestünden sie aus Glas." Er seufzte schwer und sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg. „Als sie uns bemerkten, sind sie geflohen. Nur eine nicht. Eine ist geblieben." Mit einem weiteren tiefen Seufzer ergänzte er: „Sie war die Schönste von allen. Eine Haut wie weißer Marmor und Glieder so zart und zerbrechlich wie Weidezweige."

Ich konnte wirklich nicht nachvollziehen, was Menschen daran schön fanden. Was gab es gegen einen plumpen Körper und ein unauffällig-bräunliches Federkleid einzuwenden? Dergestalt waren jedenfalls die Hennen meiner Spezies, an die ich mich aus der Zeit vor meinem einsamen Dasein am Königshof erinnerte.

Obwohl ich damals noch recht jung gewesen war, kann ich wohl in aller Bescheidenheit behaupten, dass viele attraktive Hennen meine Gesellschaft suchten. Und das nicht nur wegen meiner fabulösen Singstimme, sondern wohl auch aufgrund meines fantastischen Gefieders, das je nach Lichteinfall grünlich, rötlich oder bläulich zu schimmern vermochte.

„Sie hat kein einziges Mal geschrien", flüsterte der König.

Seine Worte ließen mich aufhorchen.

„Kein einziges Mal", wiederholte er und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Seine blasse Haut, die eingefallenen Wangen und die dunklen Augenhöhlen schienen seinen nahenden Tod vorwegzunehmen. „Hat mich nur angesehen. Und diese Augen ... wie das Innere einer Muschel."

Ich überlegte, was er damit meinen konnte. Was hatten er und sein Kumpan Edzard dieser Albin angetan?


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