Lyrenvogel - 3

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Schließlich meldete sich der König noch einmal zu Wort: „Gibt es denn schon etwas Neues bezüglich der Person, die mir das angetan hat?"

„Nun ...", murmelte sein Leibarzt. „Das Gift befand sich in Eurem Morgentee. Da aber auch andere von diesem Tee getrunken haben, muss es später hinzugefügt worden sein. Aus diesem Grund ist jeder verdächtig, der Euch im Laufe des Vormittags besucht hat."

„Was auf alle hier zutrifft", bemerkte ein hagerer Mann mit einer weißblonden Perücke und einem Leibrock in den Farben des Königshauses Ankmar. Blau. Weiß. Gold. Während er sprach, schob er sich die Maske in die Stirn, sodass alle Anwesenden sein Gesicht sehen konnten. Trotz seiner eher knochigen Statur waren seine Wangen füllig, das Kinn breit und die Lippen fleischig. „Auf alle, außer Euren feinen Freund Edzard", ergänzte er in einem schnippischen Tonfall. Dann senkte er den Kopf, als wäre ihm plötzlich wieder eingefallen, mit wem er sprach. „Vater ..."

„Ich traf erst vor etwa einer Stunde in Kwylla ein", fügte Edzard erklärend hinzu und tat, als hätte er die schlecht verborgene Anklage des Prinzen nicht wahrgenommen.

Interessant, dachte ich. Auch wenn die ständig wechselnden Männer im Bett neben meinem Käfig kein Interesse bei mir wecken konnten, die Umstände ihres Todes erfüllten mich jedes Mal mit einer geradezu morbiden Lust am Bösartigen und Makaberen.

Wer streckte diesmal die Hand nach der Macht aus? Welcher der hier Anwesenden hatte sich von einem der anderen Adelshäuser bestechen lassen? Wer war bei der Verteilung der hohen Posten übergangen worden und trug seitdem einen mörderischen Zorn in sich? War es die Geliebte? Der Leibarzt? Der Hauptmann? Der alte Freund oder gar der eigene Sohn?

„Ich kenne Edzard schon seit vielen Jahren", sagte der König. „Wir haben ..." Er schenkte seinem Freund einen anerkennenden Blick, aus dem echtes Vertrauen sprach. „... uns lange nicht gesehen, aber ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Die ... Vergangenheit hat uns zusammengeschweißt."

Die Vergangenheit und ein ungeheuerliches Verbrechen an einer Albenfrau?

Edzard nickte zustimmend, was seine schwarzen Locken auf und ab wippen ließ.

„Aber wie sollen wir feiern, wenn wir wissen, dass der Täter einer von uns ist?", fragte Fräulein Hinrika und warf dem grobschlächtigen Meenhard einen misstrauischen Blick zu.

„Wenn ich jemanden töten wollte, würde ich kein Gift verwenden", sagte der Hauptmann und klopfte auf den Griff des Schwertes, das er gut sichtbar am Gürtel trug. „Und es heißt doch, Gift würde in der Regel von Frauen verwendet."

Fräulein Hinrika fasste sich ans Schlüsselbein und lachte schrill. „Wollt Ihr mich etwa beschuldigen?"

„Er hat nicht Unrecht", sagte der Leibarzt. „Gift ist die typische Waffe einer betrogenen Geliebten."

„Aber ich habe nichts getan", protestierte Fräulein Hinrika und wich vor den Männern zurück, bis sie mit dem Rücken zur Tür stand.

„Was ist?", knurrte der Prinz und deutete anklagend mit dem Finger auf sie. „Hat mein Vater dir nicht die Perlenkette geschenkt, die du dir gewünscht hast, du undankbare Straßendirne?"

Die Angesprochene schnappte entsetzt nach Luft. Ihr Blick irrte zum König, der die Augen halb geschlossen hatte. Lediglich das starre Lächeln auf seinen blutleeren Lippen deutete darauf hin, dass er noch mitbekam, was um ihn herum passierte. Und offenbar amüsierte er sich prächtig.

„Wollt Ihr dazu nichts sagen, Eure Majestät?", flehte seine Mätresse. „Ich liebe Euch. Ich würde Euch niemals etwas antun."

„Wisst Ihr, was weißes Erbkraut ist?", mischte der Leibarzt sich ein.

Fräulein Hinrika zögerte. „Nein, das solltet Ihr wohl besser die Küchenmädchen fragen."

„Weißes Erbkraut ist die Pflanze, aus der das Gift gewonnen worden sein muss. Es wächst am Ufer des Maladian. Etwa eine Tagesreise von hier."

„Hah!", triumphierte Fräulein Hinrika. „Ich habe bereits seit Wochen die Stadt nicht mehr verlassen – und am Ufer des Maladian war ich zuletzt als kleines Kind."

„Bestimmt kann man das Kraut auch auf dem Markt kaufen", bemerkte Hauptmann Meenhard.

„Kann man", bestätigte der Leibarzt. „Aber die Zubereitung erfordert eine gewisse Sachkenntnis."

Der Prinz schnaubte. „Ihr wisst schon, dass Ihr Euch damit verdächtig macht?"

Das schien dem Gelehrten tatsächlich erst jetzt aufzugehen. Er sackte ein Stück in sich zusammen. „Das ... das ... ich würde doch niemals ... ich meine ... das wäre ja ungeheuerlich."

„Von uns allen seid Ihr mit Abstand der Verdächtigste", setzte der Prinz nach.

„Mit Verlaub", sagte Edzard, der die Szene bis dahin schweigend verfolgt hatte. „Dürfte ich etwas vorschlagen?"

„Mit Verlaub ... nein", entgegnete der Prinz mit hochroten Wangen. „Mein Vater mag Euch ja vertrauen, aber ich habe Euch noch nie gesehen. Ihr könntet der unheilige Essenkehrer persönlich sein."

„Schweig still, Sohn", ächzte der König. „Lass meinen Freund ausreden."

„Da, wo ich herkomme, gibt es eine zuverlässige Methode, um herauszufinden, ob jemand die Wahrheit sagt."

„Tatsächlich?", hauchte der Leibarzt und musterte Edzard interessiert. „Und wo kommt Ihr her, wenn ich fragen darf?"

„Aus dem Norden", antwortete der Angesprochene. „Aus Verdan, am Rand des Estrim-Gebirges."

Der Arzt nickte wie eine kaputte Puppe. „Da habt Ihr es sicher oft mit Albenvolk zu tun."

„So kann man es sagen."

„Wirklich lästig. Die Lotrechten mögen dumm wie Bohnenstroh sein, aber in einem haben sie Recht: Wir müssen uns von diesem hexenden Oberling-Pack befreien."

Fräulein Hinrika verschränkte wie zum Gebet die Finger ineinander. „Haben die Alben wirklich keine Seele?"

„So ist es", bestätigte der Leibarzt.

„Und dafür magische Fähigkeiten?"

„Ihr sagt es", knurrte der Prinz. „Erst neulich hab ich gesehen, wie eine Albin mit ihrer Magie ein Boot zum Kentern gebracht hat."

„Aber sie nennen es nicht Magie", wandte Meenhard ein. „Sondern Talent."

Der Prinz winkte ab. „Alles das Gleiche."

„Was ist das für eine Methode, von der Ihr spracht?", wollte der König wissen. Er klang ungeduldig. Vielleicht war er inzwischen am Ende seiner Kräfte angelangt.

Edzard fasste sich ans Gesicht und nahm eines der Glöckchen ab, mit denen seine Maske geschmückt war. „Bei uns werden die Verdächtigen während des Verhörs gezwungen, den Arm auszustrecken. Dann befestigen wir ein Glöckchen an ihrem Zeigefinger. Und wenn sie lügen, hört man es klar und deutlich." Er bewegte das Glöckchen hin und her, was ein hohes Klimpern erzeugte.

Die Anwesenden klangen beeindruckt.

Ich war es auch. Von ihrer gedanklichen Schlichtheit.

„Ich werde beweisen, dass ich nichts damit zu tun hatte", verkündete der Leibarzt, nahm seine Maske ab und streckte den zittrigen Arm aus. „Na los, prüft mich, wenn Ihr wirklich glaubt, dass ich meinen König vergiftet habe."

Zunächst reagierte niemand. Alle tauschten misstrauische Blicke, dann trat der Prinz vor, nahm das Glöckchen, betrachtete es von allen Seiten, als vermutete er irgendeinen versteckten Mechanismus, und band es schließlich um den Finger des ältlichen Gelehrten. Dann machte er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk. „So?"

Edzard senkte leicht den Kopf. „Ganz genau."

Der Prinz spähte zu seinem Vater. Als dieser nicht reagierte, nahm er die Sache selbst in die Hand. „Habt Ihr Eurem König das Gift verabreicht, in der Absicht, ihn zu töten?"

Alle hielten den Atem an und warteten auf das Bimmeln des Glöckchens. Ich ebenfalls. Diese Methode mochte unvorstellbar lächerlich sein, aber sie war auch schrecklich unterhaltsam.


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