Faulig - 2

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Ich schwebe über Bad Audela. Von hier oben kann ich die charakteristischen Merkmale der Stadt erkennen: die hölzernen Gradieranlagen und die Autobahn, die sich von einer Talseite zur anderen schwingt. Und ich sehe die Sole. Wie ein kupferrotes Adergeflecht zieht sie sich durch die Stadt. Bis zum kreisrunden Solebecken, das angeblich noch aus Römerzeiten stammt. Rundherum die Jugendstilbäder mit ihren Brunnen und Fontänen. Ich kann das alles sehen. Als wäre ich ein Vogel, der auf ausgebreiteten Schwingen über die Stadt gleitet.

Aber da ist noch ein anderes Bild von Bad Audela. Ein schattenhaftes Bild, das im Hintergrund lauert. Wie bei einem doppelbelichteten Foto. Es zeigt ein gänzlich anderes Szenario. Keine Jugendstilvillen, Bäder und Parkanlagen, sondern eine tote, schwarze Moorlandschaft. Seen und Tümpel, deren Oberflächen so glatt sind, dass man sie für polierten Obsidian halten könnte. Gierige Sümpfe, die sich mit mehr Regenwasser vollgesogen haben, als sie verdauen können. Feucht, fett und finster in ihrer verhängnisvollen Völlerei. Boshaft geworden von den gärenden Gasen in ihren Eingeweiden. Fast ist es mir, als könnte ich sie zornig brodeln und blubbern hören.

Langsam sinke ich tiefer. Ich will nicht, aber ich kann nichts dagegen tun. So sehr ich mich auch sträube und mit den Armen schlage, um an Höhe zu gewinnen, etwas zieht mich in die Tiefe. Das Moor kommt näher. Fauliger Gestank schlägt mir entgegen. Ich bereite mich auf den Aufprall vor.

Und dann bin ich auch schon auf der anderen Seite. Eine unangenehme, drückende Wärme umfängt mich. Luftblasen steigen aus meinem Mund zurück zur Oberfläche. Das Wasser ist zähflüssig und trüb. Gelb-grünlich. Von Farbe und Konsistenz krankhaften Durchfalls. Verfaulende Pflanzenreste und skelettierte Tierkadaver ziehen an mir vorüber, tanzen in den trägen Schwingungen der Wellen. Der bleiche Schädel eines halb verrotteten Rindviehs grinst mich an, bevor er von einer Strömung davongespült wird und in der Dunkelheit verschwindet. Etwas streift mich am Fuß. Es sieht aus wie das knochige Bein einer ausgestorbenen Riesenspinne. Kurz tastet es nach meinem Körper, dann zieht es sich zurück.

Ich versacke immer tiefer im Moor. Das widerliche Brackwasser steigt mir in die Nase. Mit Gewalt presse die Lippen zusammen, um nichts davon schlucken zu müssen.

Langsam schiebt sich eine große, hell erleuchtete Werbetafel in mein Sichtfeld. Sie zeigt eine Zeichnung im Stil der Fünfziger Jahre: Eine leichtbekleidete Frau mit Sonnenbrille und Kopftuch, die am Rand einer sprudelnden Quelle steht und auf ein idyllisches Tal hinunterblickt. Darüber steht Kommen Sie ins Heilbad Audela - Sanfte Sanierung für Körper und Seele. Während ich den Satz ein zweites Mal lese, nimmt die Frau auf dem Bild ihre Brille ab und dreht sich zu mir um. Ihr Kopf ist nur noch ein von Maden und Würmern abgenagter Schädel. Eine glänzende Käferlarve windet sich aus ihrer linken Augenhöhle. Die tote Frau steckt sich den Bügel ihrer Brille zwischen die nicht mehr vorhandenen Lippen und posiert aufreizend, als wäre sie bei einem Fotoshooting und müsste den Fotografen von sich und ihren körperlichen Vorzügen überzeugen.

Dann erlischt das Licht und taucht meine Umgebung in tiefschwarze Finsternis. Unschlüssig treibe ich auf der Stelle und warte auf das nächste Ereignis. Ich muss nicht lange ausharren. Ein transzendentes Kichern hallt durch das Moor und versetzt das modrige Wasser um mich herum in Vibration.

„Komm, spiel mit uns", verlangt eine helle Kinderstimme.

„Ja, komm schon. Es macht Spaß."

„Ich wette, du kannst uns nicht fangen."

„Erwachsene können das nie."

Ich mache ein paar unbeholfene Paddelbewegungen auf die Stimmen zu, die sich von mir zu entfernen scheinen.

„Du bist so lahm."

„Lahm wie das Maultier, dem mein Opa ins Knie geschossen hat."

Die Kinder haben recht. Ich komme nur quälend langsam voran.

„Wenn du uns fängst, verraten wir dir ein Geheimnis."

„Oh ja, ein super Geheimnis."

Die Stimmen haben die Richtung geändert. Sie scheinen jetzt von unten zu kommen. Ich tauche auf sie zu.

„Mama?"

Das ist die Stimme von Emily.

„Mama, komm schnell, ich muss dir was zeigen."

Ich erhöhe meine Bemühungen, kämpfe mich durch das Wasser. Blubbernd und sprudelnd quillt es mir entgegen. Gleichzeitig wird es wärmer. Ich kann fühlen, dass ich mich meinem Ziel nähere. Ein Schemen taucht vor mir aus der Dunkelheit auf. Er schwankt hin und her wie ein Wäschestück im Wind.

„Mama, ich hab' die Kinder gefunden", sagt Emily.

Ich kann ihre blonden Haare erkennen. Sie werden von unsichtbaren Strömungen durcheinander gewirbelt.

„Die Kinder im Wasser, Mama. Ich hab' sie gefunden."

Mit zwei letzten Schwimmzügen erreiche ich Emily. Sie lächelt mich an. Ihre hellbraunen Augen funkeln trotz der Dunkelheit, die uns umgibt. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in diese Augen gesehen habe. Damals waren sie noch babyblau. Trotzdem sind es die gleichen Augen. Ich habe nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Auch bei meinem Mann hat es mehr als einen, vielleicht sogar mehr als ein Dutzend Blicke gebraucht, aber Emily hat mich im allerersten Moment verzaubert. Noch nie habe ich ein anderes Wesen derart geliebt oder auch nur daran gedacht, zu solchen Gefühlen überhaupt fähig zu sein.

„Ich hab' sie gefunden", wiederholt Emily. Sie klingt glücklich. „Kann ich rausgehen und mit ihnen spielen?"

„Ja, ja, natürlich mein Schatz." Ich fasse nach ihren Händen, doch noch ehe ich sie ergreifen kann, wird meine Tochter plötzlich rückwärts gezogen. Etwas taucht hinter ihr aus der Finsternis auf. Etwas Riesiges, Monströses und sehr, sehr Altes. Ein aufgedunsener, halb durchsichtiger Körper, der mit zahllosen blinden Augen, stumpfen Wucherungen und kreisrunden Saugmäulern bedeckt ist. Zusätzlich besitzt es einen gewaltigen Schlund mit wulstigen Lippen und spitzen Fangzähnen. Scheren, Tentakel und Antennen, die ein fluoreszierendes Leuchten verströmen, erheben sich aus der Finsternis. Das Monster erinnert mich an eine Mischung aus Anglerfisch und Tiefseekrabbe. Es verschlingt meine Tochter, als wäre sie nur ein winziges Stück Plankton. Gestaltloses Entsetzen erfasst mich. Ich kreische. Doch alles, was ich damit erreiche, ist, dass ich fauliges Wasser schlucke und ins Husten gerate. Dann trifft mich einer der leuchtenden Fangarme am Bauch und schleudert mich zurück in die Realität. 

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