PEOPLE SICKNESS - 2

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Dienstag, 20. Juni 2051, 0:03 Uhr

Etwas hat mich aufgeweckt. Ich weiß nicht, was. Trotzdem ist die Furcht da. Vielleicht ist sie mir aus einem Albtraum gefolgt, an den ich mich nicht mehr erinnere. Mein Herz pumpt, als wollte es etwas aus den Tiefen meines Unterbewusstseins ins Freie befördern.

Ich rolle mich auf die Seite und taste im Dunkeln nach meiner Brille. Dabei steigt mir ein seltsamer Geruch in die Nase. Ich kann ihn nicht identifizieren, aber er erinnert mich an Asphalt in glühender Sommerhitze. Es ist lange her, dass ich etwas Vergleichbares gerochen habe. Grauenhafte Assoziationen steigen in mir auf. Ein heißer Augusttag. Weizenblondes Haar. Weiße Mullbinden, die über eine grüne Rasenfläche rollen. Fest geschlossene Rollläden. Und eine Erkenntnis, die mein Leben verändert hat. Ein Schauer wandert durch meinen Körper wie der Vorbote einer Erkältung. Plötzlich weiß ich, warum ich mich fürchte. Jemand ist hier. Ein Mensch. In meiner Wohnkapsel. Ich kann es riechen. Kann es beinahe schmecken.

Ruckartig setze ich mich auf und lasse den Blick über meine Umgebung schweifen. Vielleicht liegt es an den ungünstigen Lichtverhältnissen, aber meine Wohnkapsel kommt mir verändert vor. Wie ein Suchbild. Finde den Fehler, schallt es durch meine Gedanken. Aber ich finde den Fehler nicht. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wird intensiver.

»Cäsar?«, frage ich mit dünner Stimme, doch Cäsar reagiert nicht. Sein Leuchten ist verblasst. Er ist nicht da. Adrenalin schießt durch meine Adern, als gelte es, einem Säbelzahntiger zu entkommen. In den letzten dreiundzwanzig Jahren ist mir Cäsar nie von der Seite gewichen. Seit ich in den Bunker gekommen bin, ist er immer bei mir gewesen. Nur eine Rufweite entfernt. Doch jetzt scheint er mich verlassen zu haben. Dafür ist etwas anderes in meine Wohnkapsel eingedrungen. Etwas Blondes, Warmes, Stinkendes. Die Personifikation einer tödlichen Krankheit.

Ich reagiere ohne nachzudenken, springe auf und flüchte mich ins Badezimmer. Dort kauere ich mich zwischen Klo und Dusche zusammen, ziehe die Beine an den Körper und schlinge die Arme darum. Dann warte ich, bis das Gefühl der Bedrohung nachlässt. Es dauert etwa eine halbe Stunde, dann meldet sich Cäsar zu Wort: Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Brauburger?

Dienstag, 20. Juni 2051, 7:15 Uhr

Während Cäsar das Frühstück zubereitet, nehme ich zum wiederholten Mal Kontakt zur Service-Stelle auf, um eine Fehlfunktion zu melden. Außerdem will ich wissen, ob in der vergangenen Nacht irgendjemand in meiner Wohnkapsel gewesen ist. Im weichen Kunstlicht, das mir einen Sonnenaufgang vorgaukeln soll, wirkt es, als hätte sich jemand an meinen Regalen zu schaffen gemacht. Ich kann nicht direkt den Finger darauf legen, aber meine Bücher scheinen nicht mehr alle an ihrem Platz zu stehen. Mir ist klar, dass niemand unbemerkt in meine Behausung eindringen kann, aber vielleicht war es eine Rettungsmannschaft, die sich in der Tür geirrt hat. So etwas kann schließlich vorkommen.

Der Mann vom Versorgungsdienst, der aussieht, als hätte er eine genauso schlechte Nacht gehabt wie ich, versichert mir, dass er die AVE-Protokolle überprüfen wird. Eine Meldung über ein befugtes oder unbefugtes Eindringen habe es nicht gegeben. Ich spreche ihn auf den schwefelartigen Geruch an, der noch immer wie ein Pesthauch in der Luft hängt. Er gelobt, Kontakt zur Gebäudewartung aufzunehmen.

Frustriert beende ich den Chat und gehe zum Essensschacht, um mir mein Frühstück abzuholen. Die meisten Nahrungsmittel, die wir im Bunker vorgesetzt bekommen, werden im Keller der Anlage angebaut - betreut von einzelnen Mitarbeitern in Schutzkleidung oder speziellen Maschinen. Auch die restliche Industrie ist inzwischen auf nicht-menschliche Mitarbeiter umgestiegen. Jedenfalls in den Bereichen, in denen dieser Umstieg möglich war. Manche Wirtschaftszweige, wie die Waffen-, die Auto- und die Reiseindustrie sind jedoch komplett weggebrochen. Die PEOPLE SICKNESS hat demnach auch etwas Gutes: Der Umwelt geht es blendend. Gleichzeitig verliert die Krankheit mit steigender Todesrate an Aggressivität. Irgendwann wird unsere Population vermutlich derart ausgedünnt sein, dass wir den Bunker verlassen können, ohne befürchten zu müssen, an der nächsten Straßenecke auf einen anderen Menschen zu treffen.

»Wo warst du eigentlich letzte Nacht?«, will ich von Cäsar wissen, während ich eine schleimige Gemüsepaste auf ein weiches Stück Fladenbrot schmiere. Ich versuche, möglichst beiläufig zu klingen. Cäsar ist ein pflichtbewusster Freund und Helfer, aber er kann auch streng sein. Als ich noch ein Kind war, hat er mich oft zurechtgewiesen. Vermutlich nicht zu Unrecht. Die Pubertät kann hart sein. Besonders dann, wenn man in einer winzigen Wohnkapsel gefangen ist.

Ich konnte nicht hier sein, erwidert Cäsar. Ich kann förmlich sehen, wie sich seine hohe Stirn kräuselt.

»Wegen des Eindringlings?«, frage ich. Schon beim Gedanken daran, ein anderer Mensch könnte in meine Wohnkapsel eingedrungen sein, kriege ich wieder Herzrasen. Vermutlich bin ich dem Tod in der vergangenen Nacht nur knapp von der Schippe gesprungen.

Cäsar antwortet nicht. Mich beschleicht der Eindruck, dass er mehr weiß, als er mir sagen will. Normalerweise hat er keine Geheimnisse vor mir. Es beunruhigt mich, dass er mir etwas verschweigen könnte.

Obwohl ich keinen großen Hunger habe, würge ich das Frühstück herunter. Dann stelle ich das Geschirr zurück in den Essensschacht und wende mich zum wiederholten Mal meinen Regalen zu, die seltsam unordentlich wirken. Etwas ist definitiv anders als sonst. Mein Blick fällt auf eine alte Spieluhr, die Rufus mir zu unserem Jahrestag geschenkt hat. Wenn man sie aufzieht, dreht sich eine kleine Metallfigur zum Klang von Electric Sheep von den Bunker Hunters. Eines meiner absoluten Lieblingslieder. Doch die Spieluhr ist kaputt. Die Metallfigur ist abgebrochen. Fassungslos nehme ich sie aus dem Regal und drehe sie hin und her. Wut schnürt mir die Kehle zu. Dann sackt mir der Zorn unangenehm in den Magen, als mir klar wird, was passiert sein muss. Jemand ist hier gewesen und hat meine Spieluhr kaputt gemacht!

Dienstag, 20. Juni 2051, 15:23 Uhr

Ich höre meiner Patientin kaum zu. Sie ist ein so genanntes Bunker-Kind, genau wie ich, aber im Gegensatz zu mir hört sie Stimmen aus der Toilette, die ihr befehlen, mit ihren Fäkalien Jackson-Pollok-artige Gemälde an die Wände ihrer Wohnkapsel zu schmieren. Während sie mir von ihrem neusten Werk berichtet, driften meine Gedanken immer wieder zur vergangenen Nacht zurück. Es ist unmöglich, nicht daran zu denken, solange dieser widerliche Geruch in der Luft liegt. Um den Kopf freizukriegen, trage ich mich nach meinem letzten Termin in die elektronische Liste zum Hofgang ein. Nur eine halbe Stunde später teilt Cäsar mir mit, dass ein Slot freigeworden ist.

Der Innenhof des Bunkers ist mehr eine Art offener Wintergarten. Nach jedem Besucher wird die Luft gefiltert und von krank machenden Molekülen gereinigt. Trotzdem ist es angenehm, zwischen den Bäumen und Hecken umherzuschlendern, wie Marie Antoinette in den Lustgärten von Versailles. Manchmal fängt sich eine Windböe zwischen den hohen Betonmauern, die bis in die Wolken zu ragen scheinen. Heute jedoch nicht. Heute ist der Himmel hellblau und es herrscht eine drückende Hitze. Die Lavendelpflanzen, Hortensien und Pfingstrosen lassen die bunten Köpfe hängen. In den Kräuterbeeten, die uns Bewohnern zur freien Verfügung stehen, herrscht gähnende Leere. Ich versuche, meine Situation zu durchdenken, aber meine Gedanken drehen sich im Kreis, wie ein kleines Schiff, das zu nah an einen Strudel geraten ist.

Eine Lichtreflexion an einem der Fenster über mir zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Als säße ich in einem Schnellzug in die Vergangenheit, sehe ich sie vor mir: Patrizia. Ein kleines, blondes Mädchen mit einem blutigen Knie, das im Nachbarhaus hinter einer Fensterscheibe sitzt und sich die Augen ausweint. Für einen kurzen Moment hört sie auf zu flennen und sieht zu mir herüber. Was sie wohl sehen muss? Ein anderes kleines Mädchen mit dunklem Haar, das sie anstarrt. Obwohl wir durch zwei Glasscheiben und zwei Gärten voneinander getrennt sind, haben wir eine Verbindung. Patrizia lächelt und winkt. Ich erwidere die Geste. Dann kehren ihre Eltern mit dem Verbandszeug zurück und lassen die Rollläden herunter. Zum letzten Mal.

Als ich eine halbe Stunde später in meine Wohnkapsel zurückkehre, sehe ich Cäsar an. »Du weißt es, oder?«

Cäsar weicht meinem Blick aus. Es tut mir leid, Frau Brauburger. 

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