Als ich wieder zu mir komme, höre ich als Erstes den Regen. Er prasselt auf die Autodächer, tropft von den Dachkanten und sammelt sich in den Spurrillen auf der Fahrbahn. Unter diesen Bedingungen wirkt die Stadt mit ihren Wolkenkratzern und Neonlichtern wie das Innere eines Kaleidoskops.
»Da bist du ja«, sagt TROY, der mich wie immer erwartet. Seine vertraute Gestalt – selbst, wenn sie nur eine Projektion ist – beruhigt mich in meiner Phase der Desorientiertheit.
Jedes Erwachen im Gehirn meines Androiden geht mit unangenehmen Begleitsymptomen einher: retrograde Amnesie, Schwindel, Übelkeit, Verwirrung, Zittern, Hitze oder Kältegefühle. Manchmal alles zusammen. Heute ist es nicht ganz so schlimm wie sonst, aber ich muss mich trotzdem an einem Laternenmast festklammern und tief atmen, um den Brechreiz niederzukämpfen.
Die Ursache für meine Beschwerden liegt auf der Hand: Mein Bewusstsein muss sich erst an den neuen Körper gewöhnen. Normalerweise bin ich eine 1,60m kleine Brünette, die nicht mal ein Gurkenglas öffnen kann (ja, auch technologisch hochentwickelte Kulturen haben noch keine bessere Möglichkeit gefunden, um Gurken zu konservieren). Jetzt stecke ich im Körper eines knapp 1,90m großen, muskelbepackten, zu 100% im Labor entwickelten Supersoldaten mit dem Namen Troy.
»Wie geht es dir?«, erkundigt sich die Troy-Projektion, bei der es sich um sowas wie eine dreidimensionale und hochkomplexe Benutzerschnittstelle handelt. Um sie besser vom echten Troy, in dessen Androiden-Körper ich gerade stecke, unterscheiden zu können, nenne ich sie TROY.
Ich wische mir mit dem Ärmel über den Mund und nicke. Dabei bemerke ich, dass wir beide in einen grässlichen, giftgrünen Fummel gekleidet sind. »Was ist das?«
»Die aktuelle Mode auf Pleroma«, antwortet TROY. Obwohl Ingrid seine emotionale Schwankungsbreite bereits erhöht hat, ist seine Persönlichkeit noch immer reichlich unterkühlt. Carl ist der Meinung, das müsse so sein. Niemand wolle einen Androiden, der kichert wie ein kleines Schulmädchen. Aber manchmal würde ich mir schon wünschen, dass er etwas mehr Gefühle zeigt.
»Is' nich' wahr«, nuschele ich und betaste den Saum meines Hemdes. Lycra oder etwas in der Art. Es fühlt sich weniger real an als Troys Haut – und die besteht fast ausschließlich aus Dermaplastik.
»Es ist wichtig, mit der einheimischen Bevölkerung zu verschmelzen«, werde ich von TROY belehrt.
Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Er legt den Kopf schief. Wie eine Eule. Bestimmt hat Ingrid diese Bewegung einprogrammiert. Troys äußeres Design stammt dagegen aus Carls Feder. Dabei hat er so ziemlich jede einzelne seine Superheldenfantasien ausgelebt. Troy ist die personifizierte Kampfmaschine. Er (und im Moment heißt das: ich) hat Muskeln aus Stahl, breite Schultern und ein kantiges Gesicht mit scharfen Wangenknochen und schmalen, fast pechschwarzen Augen. Sein Hautton ist etwas dunkler als meiner und seine Haarfarbe changiert zwischen verschiedenen Ebenholztönen. Ich habe keine Ahnung, wieso Carl dieses Design gewählt hat. Wieso er ihn so verflucht attraktiv machen musste. Das ist mir schon mehr als einmal fast zum Verhängnis geworden. Wer hätte gedacht, dass Frauen so aufdringlich sein könnten? Wenn sie schon etwas angetrunken sind, können sie kaum die Finger von Troy lassen. Und dabei bemerken sie gar nicht, dass ihre Bemühungen vollkommen für die Katz sind. Wenn ich am Steuer bin, mache ich mir einen Spaß daraus, diese verrückten Weiber abblitzen zu lassen. Und wenn Troy auf Autopilot steht, endet es auch nicht anders. Wir haben ihm nämlich kein Verhaltensgambit für die zarten Gefühle mitgegeben. Um ehrlich zu sein, fehlt ihm sogar ein Erotikprogramm. Carl und Ingrid denken nicht, dass er eins brauchen könnte. Ich sehe das anders und manchmal schreibe ich heimlich an einem passenden Code, aber ich denke nicht, dass ich ihn jemals irgendwem zeigen werde. Obwohl ich nicht mehr siebzehn bin und von uns Dreien vermutlich die meisten Erfahrungen in Sachen Sex habe, ist es mir unangenehm, wenn andere wissen, dass ich mich mit Troys Sexleben befasse. Das traue ich mich nur im stillen Kämmerchen, wenn niemand Zeuge meiner Gedankenspiele wird und ich nicht das Gefühl habe, mich dafür rechtfertigen zu müssen.
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Shorts
Short StoryEine Sammlung meiner Kurzgeschichten. Enthält: PEOPLE SICKNESS (Ideenzauber 2019) Faulig (Ideenzauber 2020) Ein Sommernachtsalbtraum (Sommernachtsträume 2020) Erdbeernächte (Sommernachtsträume 2020) Operation Troy Lyrenvogel (Ideenzauber 2022) Tr...