Kapitel 8

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"Miss Castile? Wissen Sie vielleicht die Antwort auf diese Frage?"

Ich sah auf mein leeres Notizbuch. Wir hätten mitschreiben sollen, was Dozent Havering uns erklärt hatte. Doch ich war erschöpft, da ich nachts kein Auge zugemacht hatte. Sowie in der Nacht davor. Und in der Nacht vor der Nacht davor. Meine Gedanken waren um Weston geflattert. Ich war mich noch immer nicht im Klaren darüber, was ich von ihm halten sollte. Schließlich war ich zum Entschluss gekommen, das ich ihn nur in den dringlichsten Fällen beachten würde. Das hatte aber nichts daran geändert, dass meine Blicke die ganze Vorlesung lang zu ihm schweiften. Ich. Darf. Mich. Nicht. Verlieben. Nie. Und. Nimmer. Nicht in diesem Leben. Mit Jo hatte ich mich wieder vertragen, da es keinen Sinn machte, ihn zurückzuweisen.

"Ähm" Es war nicht wirklich schlau, in der ersten Reihe zu sitzen, wenn man nicht aufpasste. "Könnten Sie die Frage vielleicht nochmal wiederholen?"

"Natürlich. - Kann es einen erdähnlichen Planeten im Doppelsystem geben, Miss Castile?"

Ich räusperte mich. "Nun ja, äh."

"Ja, es kann erdähnliche Planten im Doppelsystem geben, da sich Planeten in einem Doppelsystem problemlos bewegen können, wo sie nur die Gravitationskraft eines anderen Planeten spüren.", flüsterte jemand von hinten. Nur ganz leise, sodass nur ich es hören konnte. Weston. Weston half mir aus der Patsche.

"Äh ja, das ist möglich, weil sich Planten in einem, äh, Doppelsystem problemlos bewegen können, wo sie die Gravitationskraft eines anderen, ähm, Planeten spüren.", wiederholte ich, was Weston mir eingesagt hatte.

"Ausgezeichnet erklärt, Miss Castile. Wenn Sie in den anderen Stunden weiterhin so aufmerksam sind, ist Ihnen ein erfolgreicher Abschluss gesichert!", lobte Dozent Havering.

Ich drehte mich um und formte mit meinen Lippen: Danke. Weston zog seine Mundwinkel bloß hoch und winkte kaum merkbar ab. Nun war ich noch unkonzentrierter als zuvor. Warum musste er nur so verdammt hilfsbereit sein? Wie sollte ich ihn da verachten? Warum musste er es mir so schwer machen?

***

Wir erhoben uns. Ich streifte meine Bluse glatt. Alle gingen aus dem Hörsaal. Ich musste erst sorgfältig mein Zeug zusammenpacken. In Sekundenschnelle leerte sich der Hörsaal. Doch Weston rührte sich nicht vom Fleck. Er stand bloß da und sah mir zu. Ich zippte die Tasche zu und wendete mich zum Gehen. Plötzlich setzte sich Weston auch in Bewegung. Hatte er extra auf mich gewartet, sodass ich nicht allein sein musste?

Als wir auf gleicher Ebene waren, sah ich in eindringlich an. Sein Kiefer zuckte. Eine kaum merkliche Bewegung, die wahrscheinlich nur mir auffiel.

"Danke für deine Hilfe.", murmelte ich kleinlaut.

"Ich wollte etwas tun, das du nicht kannst.", meinte er, woraufhin ich einen stechenden Schmerz in meiner Brust fühlte. Das schlechte Gewissen vom Einführungs-Tag tat sich wieder in mir auf.

Dann sagte keiner von uns etwas. Er ging stumm neben mir her.

"Äh, ich muss jetzt zu meinem Sinologie-Kurs.", sagte ich und deutete auf die Tür, die zum Hörsaal führte.

Er nickte nur und ging weiter. Dieser Mann war mir ein Rätsel. Ich sah ihm eine Weile nach, bis er hinter einer Tür verschwand.

"Dàjiā zǎoshang hǎo. Zuò xià zhǔnbèi yīxià!" (Guten Morgen, zusammen. Setzt euch schon mal und bereitet euch vor!), sagte Jiǎngshī Liu, der gerade an seinem Laptop herumwerkte und versuchte das Bild mittels Projektor auf die große Wand zu übertragen.

"Zàihuì!" (Guten Tag), begrüßte ich den Dozenten und suchte mir einen Platz. Ich studierte Chinawissenschaften, weil meine Yāy China liebte. Meine Großmutter wollte nach China reisen, hatte aber nicht die nötigen finanziellen Mittel dazu. Ich hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, als ich acht war. Damals hatte sich meine Mutter mit meinen Großeltern zerstritten und es war mein erster und letzter Besuch in Thailand gewesen. Dennoch hatte ich eine innige Bindung zwischen mit und meiner Yāy gefühlt und ich wollte irgendwann, sofern ich sie je wieder sah, ihren Wunsch erfüllen und mit ihr nach China reisen. Und ich wollte ihr etwas über das Land erzählen können und mich mit den Leuten dort veständigen können. Ich wollte, dass sie stolz auf mich ist. Ihre Enkeltochter.

Der Saal füllte sich stätig und Liu schloss die Tür.

"Liebe Studentinnen und Studenten! Ich freue mich, Sie alle auch in diesem Jahr wieder begrüßen zu dürfen! In diesem Semester werden wir uns hauptsächlich mit chinesischer Schriftzeichenkunde, sowie mit dem Leseverständnis, chinesischer Literatur und Geschichte beschäftigen. Wir beginnen mit der Schriftzeichenkunde. Ich bitte euch, Aufzeichnungen zu machen, da dies schlechthin der relevanteste Bereich der Sinologie ist." Bei jedem neuen Themenbereich sagte Liu, dass dies der wichtigste Bereich sei.

Sein Englisch war, obwohl er den Großteil seines Lebens in China gelebt hatte, makellos. Seine Aussprache war flüssig und deutlich und er verstand so ziemlich jedes Wort im Vokabularium. Er sagte, das käme nur davon, dass der Englisch-Professor an seiner ehemaligen Schule jahrelang in England gelebt hatte und seinen Schülern und Schülerinnen Dinge so lange beibrachte, bis sie sie auswendig wiedergeben konnten. Ich konnte weder Spanisch noch Thailändisch wirklich fließend sprechen, obwohl ich mit diesen Sprachen aufgewachsen war.

Eine halbe Ewigkeit ließ Liu uns einzelne Buchstaben aufschreiben, daneben die Aussprache. Die Aussprache fiel mir relativ leicht, da ich manches vom Thailändischen ableiten konnte. Ich wartete sehnsüchtig darauf, dass Liu die Vorlesung beendete. Nach der Vorlesung sollten wir in der Bibliothek stöbern und uns jeweils ein chinesisches Buch heraussuchen, das wir am Ende des Semesters lesen wollten. Er meinte, das sei eine Art Ansporn Mandarin schnell zu lernen. Man wollte die Texte entziffern können, sobald man einen Blick in das Buch warf, meinte er.

***

Ich stand in der Bibliothek, die voller war, als ich gedacht hatte. Ich stöberte und stöberte - das Einzige, woran ich mich orientieren konnte, waren die Covers. Ich griff durch die Regale, als meine Finger plötzlich etwas berührten. Es war weder ein Buch noch das Holz eines Regals, erkannte ich. Denn das, was ich berührte, war warm und weich. Ich sah auf, als ich durch den Spalt ein Gesicht erspähte.

"Weston?", fragte ich. Er fuhr auf und lächelte, als er mich sah.

"Ich habe gerade an dich gedacht.", flüsterte er.

"Was? Wieso?" 

Er hielt etwas in die Höhe. State of Emergency - How We Win in the Country We Built., las ich. Von Tamika D. Mallory.

"Was ist das?", fragte ich ihn neugierig.

"In dem Buch geht es um die Unterdrückung schwarzer Menschen in den Vereinigten Staaten. Es wurde von einer Feministin geschrieben, die zufällig denselben Vornamen wie du hat."

"Wow, das macht meinem Vornamen wirklich Ehre."

"Und wie! Du kannst es dir ausleihen, sobald ich es gelesen habe!"

"Du liest? So hätte ich dich gar nicht eingeschätzt!"

"Tja, Castile, du weißt vieles über mich nicht."


Toxic SparksWo Geschichten leben. Entdecke jetzt