Ungestört

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Kapitel 14 Alex:

Nachdem ich mich entschieden hatte, das Mäuschen sich selbst zu überlassen, was angesichts der Tatsache, dass sie sich offensichtlich verlaufen hatte, sogar für meine Verhältnisse asozial gewesen war, schlenderte ich in gemütlichem Joggingtempo um den See.
Hin und wieder nahm ich Geschwindigkeit heraus, um dann sogleich in einem Blitzstart alles aus mir heraus zu holen. Nach all den Jahren hatte sich diese Methode als besonders effektiv heraus gestellt, wenn ich mal an meine Kraftreserven gehen wollte.
Ich genoss das Gefühl, welches mich jedes mal durchströmt, wenn ich vom Neuen das Tempo erhöhte. Dieser Kick, der meinen ganzen Körper durchflutete, genau den gab es nur hier. Meine Blutbahnen füllten sich mit flüssigen Feuer, mein Herz pumpte es durch simple mechanische Kraft und Druck in meine Gliedmaßen. Mein Kopf schaltete komplett ab. Meine ganze Konzentration war auf das Voreinandersetzen meiner Beine gerichtet.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die aber auch nur ein paar Minuten gedauert haben könnte - ich hatte jegliches Zeitgefühl hinter mir gelassen - ließ ich meine Beine auslaufen, bis ich letzten Endes zum Stehen kam.
Ich schloss meine Augen und atmete tief die klare Luft ein. Diesen Moment so bewusst zu erleben war ein Geschenk.

Seit langem war ich nicht mehr so entspannt gewesen. Seit langem, eigentlich seitdem ... Sie ... Sie - die "Obersten"- Sam, meinen besten Freund und einzigen Vertrauten, aus dem Weg geräumt hatten. Der Verlust schmerzte nach wie vor und die Ausweglosigkeit meiner Situation machte mich immer wieder von neuem wütend. In meiner Welt hatten die "Obersten" das Sagen. Sie hatten die meiste Macht und sorgten dafür, dass das System funktionierte. Unter ihnen waren die Krieger. Krieger waren besonders schnell, sehr stark und hatten exzellente Voraussetzungen fürs Kämpfen. Oberste waren dagegen Nieten im Kämpfen, wenn sie nicht ihre sogenannten Gaben einsetzten. Das war es nämlich, was sie von uns allen anderen unterscheidete. Jeder Oberste hatte mindestens eine Gabe, es konnten auch mehrere sein, aber das war äußerst selten. Diese Gaben konnten alles Mögliche sein. Von Gedanken lesen über Gegenstände teleportieren bis hin zu Wunden heilen war alles dabei. Es gab keine Gabe doppelt, zumindest war dieser Fall bisher noch nicht aufgetreten. Am wenigsten Ansehen innerhalb dieser Gesellschaft besaßen die Bauern. Sie waren übermenschlich schnell, aber nicht ganz so schnell die Krieger, und auch übermenschlich stark. Ebenfalls wurden sie im Kämpfen unterrichtet, aber dies geschah eher für den Fall der Fälle, welcher eintreten würde, wenn man an der Front Verstärkung brauchte.
Obwohl sie dann mehr Kanonenfutter wären - genauso wie die anderen Menschen, die sich Soldaten nannten - , als dass sie wirklich helfen würden. Ansonsten wurden die Bauern in der Menschenwelt eher als Geschäftsleute gebraucht...

Jeder hatte seinen Platz in dieser Gesellschaft.

Jeder außer mir.

Wegen der aufkommenden Wut in mir setzte ich gerade zu einer Atemübung an. Ich hasste zwar Yoga und diesen ganzen 'wir müssen gesund leben' etc. Einstellungskram der Menschen, da sie sich letzten Endes eh immer selber boykottierten, aber leider musste ich eingestehen, dass es half.
Mein Puls normalisierte sich gerade erst wieder oder war besser gesagt gerade auf dem Weg dies zu tun, als eine Stimme meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Umgebung lenkte.
Ich sah mich um und da stand doch tatsächlich nur zwei Meter von mir entfernt das Mäuschen.
Wie verdammt nochmal war sie hierher gekommen? Hatte ich wirklich ein so schlechtes Zeitgefühl, dass ich nur wenige Minuten gelaufen war? Aber selbst dann hätte es ihr doch unmöglich sein müssen mich in dieser kurzen Zeit einzuholen! Die alles entscheidende Frage lautete also: wie lange stand ich hier schon?

"Entschuldigung? Ähm hi, kannst du mir eventuell sagen, wie ich zur Hauptstraße komme?"
Da Ich sie wohl immer noch wie ein einfältiger Marienkäfer anstarrte, räusperte sie sich verlegen und fragte erneut nach dem Weg.
Ein Hoch auf meine unermessliche Selbstbeherrschung! Ich war nämlich tatsächlich dazu in der Lage meinen Arm zu heben und in die entsprechende Richtung zu zeigen.
"Wenn du nach Osten gehst müsstest du irgendwann auf den Feldweg treffen, der zur Stadt führt." (Die Versuchung eine Zeitangabe auszusprechen war groß, würde aber in diesem Fall definitiv Verwirrung stiften. Denn wer wusste schon wie schnell ich in Wirklichkeit war und um ehrlich zu sein, war ich auch zu faul, um das jetzt mit Näherungswerten auszurechnen!)

"Okay, danke. Dann bis morgen, denke ich.", sagte sie, nickte mir noch einmal schüchtern zu und wendete sich dann nach Osten, um wahrscheinlich zurück in ihr ach so perfektes Zuhause zu laufen.

Meine Ruhe war aufgebraucht und nun wollte ich auch nicht mehr ruhig sein. Die Tatsache, dass sie mich ansprechen konnte, obwohl ich gelaufen war, machte mir Sorgen. Vielleicht war ich krank? Vielleicht färbte Langsamkeit der Menschen ab oder ich konnte, selbst wenn ich alleine war, nicht mehr aus meiner menschlichen Rolle hinaus? Was war mit mir los?

Lost HierarchyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt