Kapitel 32

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Ich hatte ein Déjà-vu. Diese Szene kam mir bekannt vor. Ich hatte schon einmal gesehen, wie Njal Samara im Arm hielt, voller Blut. Ich hatte schon einmal den entsetzten Ausdruck auf Nathairas und Iras Gesicht gesehen. Ich hatte schon einmal Luana im Arm gehalten, um sie zu stützen. Ich habe sie schon einmal trösten müssen, weil wir nicht wussten, ob Samara überleben würde.

Das alles war ein Déjà-vu.

„Seid ihr beiden eigentlich von allen guten Geistern verlassen?" fuhr Dorian seine Frau an, doch schon im nächsten Moment hatte er ihr eine weiße Strähne aus dem Gesicht gestrichen und sah liebevoll auf sie hinab. „Ich hätte dich verlieren können."

„Dafür ist sie nicht stark genug." Manons Stimme triefte nur so von Schmerzen.
„Trotzdem." Dorian küsste sie sanft auf die Schläfe und half ihr vom Boden aufzustehen.

Die beiden kamen nicht weit, denn schon im nächsten Moment hatte Ira ihre Hand um Manons Kehle geschlossen und hob sie tatsächlich einige Zentimeter vom Boden hoch. „Sag sowas nie wieder, Mistgeburt!" sagte sie mit einer solchen Wut und Verachtung in der Stimme, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief.

„Ira bitte," Luana hatte sich aus meinen Armen gelöst und war einen Schritt auf Ira zugegangen, doch Nathaira hielt sie auf. Auch in ihren Augen blitzte die pure Wut auf.

„Lass ihr den Spaß," nichts an Nathairas ganzem Auftreten ließ darauf schließen, dass sie eigentlich liebevoll und gerecht war. In diesem Augenblick hatte sie mehr Ähnlichkeit mit Ira, als sonst.

Chaol hatte seine Frau von Samara gezogen und seine Tochter ebenfalls an sich gedrückt, bereit dazu beide zu verteidigen, falls es soweit kommen musste. Dorian hatte sein Schwert gezogen und war ebenfalls bereit dazu Blut zu vergießen.

„Lass Manon los und ich verspreche dir, dass du dafür keine Konsequenzen erfährst," rief er und trat noch einen weiteren Schritt auf Ira zu, die ihren Griff um Manons Kehle nur noch verstärkte, die daraufhin zu röcheln begann.

„Ich schwöre dir, wenn Samara stirbt werde ich deine ganze Familie abschlachten. Ich werde deinen Kindern ganz langsam die Haut von den Knochen schälen und mir daraus eine Decke machen. Deinem Mann werde ich zuerst jeden einzelnen Knochen brechen und ihn dann wegsperren, bis er elendig vergeht," zischte Ira, bevor sie Manon von sich schmiss.

Sofort war Dorian wieder an Manons Seite und warf Ira einen Blick zu, der den Tod versprach, doch er unternahm nichts.

„Sperr sie weg!" rief Chaol, der eigentlich unfähig war etwas zu tun.
Dorian blickte nicht von Ira weg, als er ihm antwortete: „Nein. Ich habe ihr versprochen, dass sie keine Konsequenzen erfährt, wenn sie Manon loslässt."

„Das ist der falsche Zeitpunkt, um gerecht zu sein, Dorian! Sie hat beinahe deine Frau ermordet und diese Hexe hat Aedion auf dem Gewissen." Chaol zeigte auf Samara, die noch immer bewusstlos in Njals Armen lag.

„Samara hat ihn nicht getötet."
„Wie bitte?"
„Samara hat ihn nicht getötet," wiederholte Ira langsam, als ob Chaol schwer von Begriff war.
„Aedion wurde von den abtrünnigen Hexen umgebracht...vor acht Jahren..." nur war es Chaol, der ganz langsam sprach, um sicherzustellen, dass wir es alle verstanden haben.

„Das stimmt," mischte sich Luana leise ein. „Aber die ‚abtrünnigen' Hexen, wie ihr uns gerne nennt, bestehen aus weit mehr Hexen, als nur aus Samara. Ihr könnt ihr nicht für alles die Schuld geben."

„Und wer hat Aedion dann getötet?" wollte Kian wissen, der den Tod seines Onkels noch immer nicht überwunden hatte.

„Ich war es." Ira stand kerzengerade da. Ihre Nägel und Zähne waren, wie immer, ausgefahren, doch irgendwie wirkte sie in diesem Moment nicht mehr so gefährlich, wie noch vor wenigen Augenblicke. Viel mehr wirkte sie wie eine Frau, die ihr Schicksal angenommen hatte.

Throne of Glass- Herrscherin der FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt