1. Alles geht den Bach runter

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Seit Tagen quälte ich mich nun schon mit Schmerzen herum. Jede Bewegung tat weh, sogar jede kleine Erschütterung. Schon morgens, direkt nach dem Aufstehen musste ich ein Schmerzmittel nehmen, um halbwegs entspannt in den Tag starten zu können. Aber wegen Bauchschmerzen krank machen? Nee. Die Kinder brauchten mich, insbesondere Julia. Mit ihren drei Jahren war sie ein kleiner Wirbelwind. Sie wollte gern alles selbst machen und musste dann feststellen, dass sie für manches doch noch zu klein war. Jakob dagegen war ein ruhiger Charakter und gerade in den letzten Tagen war er mir eine große Hilfe. »Ich mach schon, Papa!«, hatte er mehr als einmal gesagt und vermutlich hätte er auch Juli zum Kindergarten gebracht, wenn er dazu nicht durch die halbe Stadt hätte radeln müssen.

Das Schlimme war, dass ich niemanden hatte, der sich um die Kinder kümmern könnte, wenn ich dazu nicht in der Lage sein sollte. Janas Eltern wohnten zwar fast um die Ecke, aber nach Janas Tod hatten sie den Kontakt zu mir komplett abgebrochen. Zumindest ließen sie es die Kinder nicht spüren, die zu den Geburtstagen und Weihnachten kleine Päckchen erhielten.
Meine Schwiegereltern waren der felsenfesten Meinung, ich hätte meine Frau in den Freitod getrieben, wie sie mir vorgehalten hatten. Aber es war ein Unfall gewesen. Ein simpler, lausiger Unfall. Auf gerader Landstraße war Jana mit dem Golf ins Schleudern geraten und seitlich gegen einen der Alleebäume geprallt. Über den Hergang konnte man nur Vermutungen anstellen, jedoch waren Bremsspuren vorhanden, die darauf hinwiesen, dass sie versucht hatte, etwas auszuweichen. Womöglich waren es Rehe oder Wildschweine. »Eine Verkettung unglücklicher Umstände«, wie mir ein Polizist mitgeteilt hatte. Sie muss sofort tot gewesen sein. Wenigstens ein kleiner Trost für mich. Sie hatte nicht leiden müssen. Aber das war nicht hilfreich. Wegen der Kinder musste ich stark sein. Juli war gerade ein Jahr geworden und Jakob besuchte seit einigen Wochen die Grundschule. Jana war immer das Organisationstalent gewesen. Nun musste ich ran und vermutlich war es gerade das, was mich am Weitermachen gehalten hat. Sie waren meine Sonnenstrahlen während alles andere um mich herum dunkel war. Von meinen Eltern erhielt ich gerade in der ersten Zeit etwas Rückhalt. Aber sie wohnten in Hamburg und mal eben nach Dresden zu kommen, war ihnen nicht immer möglich. Das wollte ich auch nicht. Irgendwie würde ich schon zurechtkommen.

Als Grafikdesigner musste ich auch nicht ständig im Büro erscheinen und konnte von Zuhause aus arbeiten. Das nutzte ich weidlich aus und verließ nur das Haus, um Juli in die Kita zu bringen und sie dort wieder abzuholen. Dabei sehnte ich den Tag herbei, an dem meine kleine Maus die nahe Grundschule besuchen würde, der gleichen, in die jetzt Jakob auch ging. Aber das waren Träume.

Im Moment blieb mir nur, mich der Realität zu stellen: Meine Kinder brauchten mich, so wie ich sie benötigte. Und mir ging es von Tag zu Tag miserabler. Nach einer Befragung von Doktor Google war mir schlecht. Darmkrebs. Bauchfellentzündung. Da waren Reizdarm und Blinddarmentzündung mir noch die liebsten Suchergebnisse. Nur die Symptome passten nicht ganz zusammen. Ob ich nun wollte oder nicht, ich musste meinen Hausarzt aufsuchen und mich womöglich sogar mit einem Aufenthalt im Krankenhaus abfinden. Was mich davon bisher abgehalten hatte, war, dass Juli und Jakob allein zu lassen für mich keine Option war. Und sie war es noch immer nicht. Das Wissen, dass Janas Eltern, Gerda und Klaus die einzige Möglichkeit waren, sie zeitnah versorgt zu wissen, erzeugte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Ihre Bereitschaft, mir helfen zu müssen, würde sie vermutlich zu Märtyrern erheben. In ihren Augen. In meinen war es Kindergarten. Sie sollten genießen, dass ihre Tochter zwei zauberhafte Kinder bekommen hatte, statt ihnen nur postalisch Geschenke zu kommen zu lassen. Es war frustrierend, aber ich würde nicht drum herum kommen, mich bei ihnen zu melden.

Morgen. Vielleicht. Oder auch am Montag.

Da heute Freitag war, hatte ich für uns einen gemütlichen Abend vor der Glotze geplant. Mit Pizza, Limonade und einem Film, den sich die Kinder schon gestern ausgesucht hatten. Aber noch war Zeit, bis ich Juli abholen musste, während Jakob bei einem Kumpel den späten Nachmittag verbringen wollte. So konnte ich am aktuellen Auftrag noch weiterarbeiten und ihn womöglich heute schon abschließen. Insgesamt wäre es ein perfekter Start ins Wochenende.
Knapp zwei Stunden später quälte ich mich vom Stuhl hoch und streckte mich. Das inzwischen gewohnte Ziepen und Brennen im Bauch, ignorierte ich. Mit einer Tablette würde es vergehen. Was ich dagegen nicht ignorieren konnte, war das Schwindelgefühl und die Schwäche in den Beinen. Ich konnte kaum die Füße heben, musste mich bei jedem Schritt irgendwo abstützen. »Das wird schon wieder«, sagte ich mir. »Das ist bestimmt nur, weil ich so lange still saß.« Daran, dass ich an anderen Tagen wesentlich länger am Schreibtisch gesessen hatte, wollte ich mich nicht erinnern. Trotzdem war da diese kleine fiese Stimme, die mir das mit Wonne unter die Nase reiben musste. Aber ich fand das überhaupt nicht lustig. Viel mehr war es beängstigend, weil ich nicht wusste, was los war. Mein Hirn war so sehr mit der Koordination der Bewegungsabläufe beschäftigt, um zum nahen Sessel zu gelangen, als dass es auch noch das Gesamtpaket analysieren konnte.

Schließlich ließ ich mich in den Sessel sinken. Vorsichtig und langsam, wie der Gang hierhin. Zum Glück lag hier auch das Handy in der Ladeschale. Die Eins-eins-zwei zu wählen war fast genauso anstrengend, wie ein Marathon und die Worte, die meine Schwäche eingestanden, waren schwer zu formulieren. Aber die Frauenstimme tat mir wohl. Sie erinnerte mich an Jana, wenn sie beruhigend mit den Kindern gesprochen hatte. »Haben Sie jemanden, um den Notarzt ins Haus zu lassen?«

»Ich habe keine Ahnung«, gab ich zu. »Vielleicht mein Nachbar.« Hilflosigkeit ist scheiße.
»Wenn es Ihnen möglich ist, sprechen Sie mit ihm«, schlug sie vor. »Wenn nicht, dann ist es auch nicht schlimm. Wenn Blaulicht vor der Tür steht, finden sich schnell Schaulustige und bestimmt auch jemand aus Ihrem Haus, der uns reinlässt. Sie müssten uns nur die Wohnungstür öffnen.«
»Das wird kein Problem sein.« Gott, wie blauäugig man sein kann, wenn man sich für einen Moment gut fühlt! Aber das erkannte ich erst, als ich zur Tür schlich, um sie zu öffnen. Und weil ich schonmal dort war, schlich ich über den Treppenabsatz und betätigte die Türklingel zur gegenüber liegenden Wohnung. Erst vor zwei Monaten war hier ein junger Mann eingezogen. »Kirsch« war auf einem Klebeetikett neben dem Klingelknopf zu lesen und er schien allein die kleine Zwei-Raum-Wohnung zu bewohnen. Oft habe ich ihn noch nicht gesehen, aber er schien nett zu sein. Vom Aussehen her. Zumindest grüßte er immer, wenn wir uns sahen, was in einem Mehrfamilienhaus keine Selbstverständlichkeit ist.

Ich musste mich an der Wand abstützen, während ich auf Geräusche lauschte. Aber da war zu viel Hintergrundrauschen in meinem Kopf. Sie machte mich blind für die Umgebung und erst als ich an der Schulter berührt wurde, sah und hörte ich wieder klarer.

»Hallo! Kann ich helfen?«, fragte der Mann, während er schon in seine Schuhe schlüpfte, die Tür hinter sich zuzog und dann klimperte es, als er seine Schlüssel in die Hosentasche schob. »Sie sehen nicht gut aus.«

Das war die Übertreibung des Jahres. »Ich habe den Notarzt anrufen müssen.«

»Für Sie?« Ohne meine Reaktion abzuwarten, tauchte er unter meinen Arm, zog ihn sich über die Schultern, und stützte mich mit der anderen Hand. »Blöde Frage«, stellte er selbst fest und half mir zurück in meine Wohnung. »Was ist mit Ihren Kindern? Wo sind sie?«

Er gab mir keine Chance zu antworten. Mir fehlte sowieso der Atem. Erst, als ich wieder im Sessel saß, schnaufte ich durch. »Julia ist noch in der Kita. Sie müsste abgeholt werden«, rasselte ich runter, obwohl sich alles so fern wie der Mars anfühlte. Als hätte man mich in Watte gepackt. Fern und nah zugleich, und so fühlte sich auch die Zeit an. Schnelles Vorspulen und Zeitlupe. Das Schwindelgefühl wurde wieder stärker und würgte mich. »Und Jakob ist bei einem Kumpel. Er müsste bald kommen und der Notarzt auch. Ich weiß nicht, was los ist.« Ich sackte in das Polster zurück. Plötzlich war alles so schwer und der Wunsch, die Verantwortung abzugeben, war übermächtig. Aber hier stand die Option, nach der ich gesucht hatte.

»Ich hole sie ab. Das ist kein Problem. Ich benötige nur eine Vollmacht«, sagte er sofort zu, gab mir keine Chance, die Bitte ordentlich zu formulieren.

Ich winkte in Richtung des Arbeitszimmers und wenig später wurde mir ein Block auf den Schoß gelegt.
»Julian Kirsch.«

Verwundert sah ich auf die Hand, die mir entgegengestreckt wurde. Dann verstand ich und ergriff sie. »Lukas Held«, stellte ich mich ebenfalls vor.

»Schreiben Sie die Vollmacht«, sagte er und sah zum Fenster, das nun in blaues Blinken gehüllt war. »Ich gehe runter, lasse die Ärzte rein und sobald Sie versorgt sind, hole ich Ihre Tochter ab.«
Ich hörte das vertraute Klappern und Klimpern meines Schlüsselbundes und wusste nicht, ob ich mich richtig entschieden hatte. Der Mann könnte ein Menschenhändler sein, ein gesuchter Krimineller, ein Mörder. Ich wusste nur das Offensichtliche von ihm und diesem Unbekannten wollte ich das Kostbarste anvertrauen, das ich besaß. Aber er war hier und stand zur Verfügung.
Unvermittelt wurde es laut in der Wohnung. Poltern von schweren Schuhen, Anweisungen wurden gegeben. Das große Deckenlicht flammte auf, ließ das Orange von Jacken und Hosen schmerzhaft leuchten und Koffer wurden abgestellt und geöffnet. Ich wollte das alles nicht, ich mochte diese Art der Aufmerksamkeit nicht.

Es fühlte sich an, als wäre ich in einem Albtraum gefangen und ich wünschte, es wäre einer. Aber es war real. Die Blutdruckmanschette am Arm war ebenso real wie die Nadel, die mir unter die Haut geschoben wurde oder die Pads auf meinem Körper, die für das EKG benötigt wurden.
Zumindest gaben mir die Sanitäter einige Minuten, die Vollmacht zu schreiben und meinem Nachbarn die Adresse der Kita zu geben.

»Ich warte auf Jakob und nehme ihn dann mit«, sagte Julian Kirsch, ehe er zurücktrat und den Sanitätern Raum gab.

KirschheldenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt