23. Von Vielleichts und Stühlen

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Ende Februar war ich noch immer nicht schlauer. Ich wusste nicht weiter – und das machte mich verrückt. Ich fühlte mich zerrissen und unruhig, nur weil Julian sein Leben lebte, als hätte es dieses komische Gespräch nicht gegeben.

Ich versuchte, es ihm gleich zu tun, was mir auch gut gelang. Nun ja, zumindest schienen die Kinder nicht zu bemerken, wenn ich mich unnormal benahm. Das war auch nicht weiter verwunderlich, da sich meine Gedankenwelt in der Zeit entfaltete, in der sie im Kindergarten und in der Schule waren. Aber sobald ich mit ihnen zusammen war, war ich voll und ganz für sie da. Wofür ich mir selbst einen Orden verleihen würde.

Dass Julian mir Bedenkzeit eingeräumt hatte, schob ich erfolgreich zur Seite. Aber diese imaginäre Geste gab den Blick auf den Schwarzen Peter frei, der mich höhnisch angrinste. »Na, was wirst du jetzt tun?«, schien er mich zu fragen. »Wirst du dich mit einer guten Nachbarschaft zufriedengeben oder lieber mit einer guten Freundschaft oder vielleicht sogar mit mehr oder mit gar nichts?«

Das waren mir zu viele Optionen und Vielleichts. Zu viele Möglichkeiten, die mir nicht gefielen und solche, die mir vielleicht doch gefallen könnten. Und da lag der Hase im Pfeffer begraben: Ich konnte nicht abschätzen, ob mir ein simpler Kuss gefallen könnte.

Gefiel er mir nicht, war eine Nachbarschaft vorprogrammiert, bei der man sich bei einem Treffen am Briefkasten einen guten Tag wünschte und im besten Fall nach dem Befinden erkundigte. Wäre das Gegenteil der Fall ...

Sobald ich bei dem Gedanken anlangte, musste ich erstmal tief durchatmen. Angst erschütterte mich. Aber ich verspürte auch etwas, was ich als Geborgenheit und Vertrautheit bezeichnen würde, die die Furcht dämpften. Mir kam der Abend in Hamburg in Erinnerung, als er mich einfach gehalten hatte und es war gut gewesen. Normal. Nichts, wovon ich Ekelpickel bekam.

Seit jetzt schon zwei Monaten hielt ich noch immer den Schlüssel, wie Julian es beschrieben hatte, in der Hand und wusste nicht, ob ich die ebenfalls beschriebene Tür nun damit aufschließen oder ihn im tiefsten Brunnen versenken sollte. Die Tendenzen waren von meiner Tagesform abhängig, wie ich mir manchmal amüsiert eingestand. Aber das half mir nicht bei der Entscheidungsfindung. Eher war es kontraproduktiv, weil es mir die Objektivität nahm.

Ein anderer Ansatz war, dass ich es sportlich und die Herausforderung annehmen sollte. Denn etwas anderes war es nicht. Julian wollte sehen, wie weit ich gehen würde, nur um ihn zu behalten.

An dieser Stelle stockten schon wieder meine Überlegungen, weil »behalten« das Äquivalent von »verlieren« ist und das war etwas, was ich Julian gestanden hatte. »Ich will dich nicht verlieren«, hatte ich ihm gestanden und danach ging erst die Sache mit der Tür und dem Kuss los. Ich war selbst schuld an der Misere und fand keinen Weg hinaus.

Es war echt zum Haareraufen!

Ich saß sprichwörtlich zwischen den Stühlen und wusste nicht, für welchen ich mich entscheiden sollte, weil beide unbequem aussahen. Oder Nein: Ich saß auf einem harten Stuhl und um mich herum kahle Wände. Ein leerer Raum. Keine weitere Sitzgelegenheit, die gemütlicher wäre, in Reichweite. Also saß ich weiterhin hier und klagte über meinen schmerzenden Arsch. Dabei wäre es so einfach, aufzustehen und mich nach einem besseren Stuhl umzusehen. Vielleicht wäre er gepolstert und wartete im Zimmer nebenan auf mich. Oder auf der anderen Seite des Flures.

Egal, wie ich es drehte: Am Ende landete ich mit meinen Gedanken immer wieder genau dort: bei meinem Problem auf der anderen Seite des Flures.

Sich täglich mit den Was-wäre-wenns herumzuschlagen, war eine Sache. Dass die Bedenkzeit ein Ablaufdatum haben könnte, eine andere. Mein Versäumnis war mir heute bewusst geworden, als ich meinen Briefkasten leerte und ein Polizist den Hausflur betrat. Er hatte mich gegrüßt und war die Treppe hinaufgeeilt. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich folgte langsamer und spekulierte dabei, wer sich in diesem ruhigen Haus etwas zu Schulden hatte kommen lassen. Mir wollte niemand einfallen. Dass er vor Julians Tür stehengeblieben war, brachte mich etwas aus der Fassung und ich blieb stehen. Aber dann fiel mir ein, dass er mir von dem Diebstahl im Laden erzählt hatte. Im vergangenen Jahr. Vor dem ganzen Chaos. Vielleicht wollte der Polizist ihn über den Stand der Ermittlungen informieren oder ...

Bevor ich weitere Szenarien entwerfen konnte, wurde die Tür geöffnet. »Was machst du denn hier?«, hörte ich Julian fragen. Er klang überrascht, aber auch erfreut und seltsamerweise störte es mich.

»Ich war gerade in der Nähe«, erwiderte der Polizist und statt Julian die Hand zur Begrüßung zu reichen, wie man es normalerweise macht, lehnte er sich vor.

Küssten sie sich etwa? Ich konnte es nicht sehen, ohne auf mich aufmerksam zu machen, aber das leise Geräusch war unverwechselbar. Knutschen im Treppenhaus wie verliebte Teenies und ich fühlte mich wie ein neidischer Nachbar, der durch den Spion alles beobachtete.

Und das war ich tatsächlich. Ein neidischer Nachbar, der Julian missgönnte, zu leben, wie es ihm gefiel. Warum sollte er sich mit einem Mann wie mir abgeben wollen, wenn er jemanden haben konnte, für den die Uniform wie gemacht war? Ich verstand sowieso nicht, was er an mir als Person fand. Wenn ich hingegen den finanziellen Hintergrund betrachtete, würde ich auf Sicherheit tippen.

Wenn ich nun wiederum die Sicherheit nahm und sie auf den Polizisten ummünzte, dann würde ich voll abstinken. Wie sollte ein kleiner Grafikdesigner da mithalten? Eben, gar nicht. Trotzdem wurmte es mich, wie vertraut sie miteinander umgingen, obwohl ich es nicht sehen konnte. Was vielleicht ganz gut war. Womöglich wäre meine Wortwahl nicht mehr »vertraut«, sondern eher »intim«.

Nur nicht zu sehr darüber nachdenken, Lukas, forderte ich mich im Stillen auf und beobachtete, wie der Polizist Julians Wohnung betrat. Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken hinter ihm. Es klang endgültig und zugleich ermahnte es mich, mich endlich zu entscheiden.

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