Meine Hoffnung Tommy betreffend hatte sich nicht bewahrheitet. Weder eine Nachricht auf dem Handy, ein Umschlag mit dem gestohlenen Geld im Briefkasten oder gar, dass er persönlich vor meiner Tür stand. Nichts von all dem. Es wäre auch zu schön gewesen.
Entsprechend frustriert erschien ich am Montagmorgen in der Polizeidienststelle. Punkt 9 Uhr. Am Anmeldetresen erwartete mich bereits ein Polizist, der mir vage bekannt vorkam. »Polizeioberkommissar Hoffmann«, stellte er sich vor. »Bei dem ganzen Stress am Freitag werden Sie sich wohl kaum an mich erinnern.«
Er führte mich in ein kleines Büro, das kaum groß genug war für den Schreibtisch, einen kleinen Tisch, der direkt davor stand sowie drei Besucherstühlen.
»Nehmen Sie bitte Platz, Herr Kirsch«, lud er mich ein, während er selbst um den Schreibtisch herumtrat, sich setzte und sich die PC-Tastatur heranzog. »Hat sich Herr Schneider bei Ihnen gemeldet?«
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er von Tommy sprach. Herr Thomas Schneider. Der Name klang fremd in meinen Ohren, und gehörte einer anderen Person. Jenem Mann, der immer den einfachsten Weg nahm, wie ich hatte feststellen müssen. Ich schüttelte den Kopf und hätte heulen können, weil ich im Grunde ein naives Huhn war.
»Das tut mir leid für Sie«, sagte mein Gegenüber und tatsächlich wirkte sein Blick mitleidig, bevor er sich dem Monitor zuwandte. Er drehte ihn so, dass ich ebenfalls auf das Display sehen konnte. »Dann wollen wir mal den Bericht durchgehen.«
In der nächsten Stunde besprachen wir den Tathergang. Dabei versuchte ich, jeden Augenblick nachzuvollziehen, was gar nicht so einfach war, weil sich Tommys Verhalten innerhalb weniger Momente so schnell verändert hatte. Ich verschwieg auch nicht, wie sich Tommy aufgeführt hatte, nachdem Lukas und die Kinder den Blumenladen wieder verlassen hatten und es dann eskalierte.
»Wie stehen Sie eigentlich zu Herrn Schneider?«
Ich war mir nicht sicher, ob diese Frage zum üblichen Fragenkatalog gehörte. Sie implizierte den Verdacht, den bereits mein Chef angesprochen hatte. Dass ich mit Tommy unter einer Decke stecken könnte. Dass wir mehr als nur Freunde waren. Aber da war nichts gelaufen. Wie sollte man es aber jemandem erklären, ohne unglaubwürdig zu sein?
»Er hatte Anschluss gesucht und mich kannte er. Ich würde uns noch nicht einmal als Freunde bezeichnen. Nur als eine Bekanntschaft. Mehr nicht.«
Der Polizist – nein, Polizeioberkommissar, wie mich das Namensschild auf dem Schreibtisch erinnerte – tippte einige Minuten stumm auf der Tastatur herum und ich konnte mitlesen. »Keine weiteren Verbindungen?«, fragte er schließlich nebenher, während er schrieb. »Wie war er auf Sie zugekommen?«
»Wir hatten uns in einer Bar getroffen«, erzählte ich. »Ich war mit Freunden dort und er hatte mich angesprochen. Wir hatten uns dann mehrmals dort gesehen und dann war er im Blumenladen aufgetaucht.«
Herr Hoffmann nickte verstehend, während er weiterhin auf der Tastatur klapperte und sich schließlich zurücklehnte. »Es bestand also weder eine geschäftliche noch eine private Verbindung zwischen Ihnen«, fasste er zusammen und sah mich nachdenklich an. »Es geht darum, dass ich ausschließen will, dass Ihnen tatsächlich eine Verbindung und Absprachen unterstellt werden. Zeugen wären dafür hilfreich. Haben Sie welche? Sie sprachen von Freunden und dem Herrn im Blumenladen.«
»Lukas kennt ihn überhaupt nicht«, gab ich zu, »und Henry und die anderen kennen Tommy nur aus der Bar. Dass er dann im Geschäft war, wissen sie gar nicht. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, es ihnen erzählt zu haben.« Ich hatte nichts gegen Tommy in der Hand, wie ich feststellen musste. Wenn es hart auf hart käme, könnte niemand für mich aussagen.
»Das ist nicht gut«, bestätigte der Oberkommissar meine Vermutung. »Aber wir werden die Herren trotzdem vorladen. Vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen, von dem Sie nichts wissen.«Obwohl die Situation keineswegs lustig war, hätte ich fast gelacht. Gut, Henry wäre womöglich etwas aufgefallen. Aber Basti und Max? Die hatten doch nur Augen für sich. Für die beiden existierte die Welt um sie herum nur, wenn sie in ihrer Blase etwas brauchten.
»Und was ist mit Herrn Schneider?«, fragte ich. »Wird er verhaftet oder wie geht es nun weiter?«
War der Polizist zuvor geradezu locker, wirkte er nun angespannt, auch wenn er weiterhin bequem im Stuhl zurückgelehnt saß und sogar mit einem Kugelschreiber spielte. »Der Haftbefehl war noch am Freitag erstellt worden, aber der Herr Schneider ist flüchtig und eine Fahndung nach ihm ist ausgeschrieben. Deswegen auch meine Frage, ob er sich bei Ihnen gemeldet hat.« Seine Augen verengten sich leicht. »Oder haben Sie vielleicht eine Idee, wo er untergetaucht sein könnte?«
Ich barg das Gesicht in den Händen. »O Mann! Der Mann ist eine Strafe«, murmelte ich und ließ die Hände wieder sinken. »Nein, ich habe keine Idee. Da er sich bei mir hatte einquartieren wollen, wird er auch keine Freunde weiter haben, die ihn verstecken könnten. Zumindest hatte er immer so getan, als würde er niemanden kennen.«
»Dann bitte ich Sie, Augen und Ohren offenzuhalten und uns sofort Bescheid zu geben, wenn Sie ihn sehen sollten.« Das klang wieder wie eine einstudierte Polizisten-Floskel und auch die Geste, mit der er mir eine Visitenkarte über den Tisch zuschob, machte er wohl täglich. »Melden Sie sich bitte sofort, wenn Ihnen etwas verdächtig vorkommt.«
Das klang nun keineswegs routiniert, sondern vielmehr eindringlich. Entsprechend beunruhigt nahm ich die Karte entgegen. »Muss ich mir Sorgen machen?«
»Man kann in die Köpfe der Menschen nicht hineinsehen.« Den gleichen oder zumindest einen ähnlichen Spruch hatte auch Lukas angebracht und genauso ähnlich waren sich die beiden, wie sie unbestimmt die Schultern hoben. »Aber nun wollen wir mal endlich zum Schluss kommen«, setzte er mit einem Blick auf seine Armbanduhr hinzu.
Nachdem der Oberkommissar den Bericht ausgedruckt, ich ihn gelesen und unterschrieben hatte, stand ich wieder auf dem Gehweg. Die Sonne schien, blendete mich, und seltsamerweise verglich ich sie mit Tommy. Thomas Schneider. Er hatte mich genauso geblendet und ich hatte deswegen die Augen geschlossen. Vor ihm verschlossen. Wie ich schon festgestellt hatte, ist der Mann eine Strafe. Eine Plage genauer gesagt. So lange er nicht verhaftet werden konnte, würde ich keine Ruhe haben. Das war mal sowas von sicher.
Aber vielleicht hatte das Schicksal – oder was auch immer über das Leben der Menschen bestimmte – mir ihn als Test vor die Nase gesetzt, um herauszufinden, was ich unter Druck zu leisten imstande bin? Dann wäre auch Klara ein Test. Und der Herr Polizeioberkommissar. Ich, Julian Kirsch, wäre das ideale Testobjekt.
Ich schnaufte, schon wieder frustriert, und begann, langsam die Straße hinunter zu gehen. Hinter mir die gleißende Sonne, vor mir auf dem Gehweg mein dunkler Schatten, und um mich herum Menschen, die ihrer eigenen Wege gingen. Die hatten bestimmt ganz andere Dinge im Kopf. Was sie heute kochen sollten, den Einkauf, eine unbezahlte Rechnung, zu wenig Geld, um die Rechnung zu bezahlen. Nein, bei solchen Gedanken schlug ich mich lieber mit meinen eigenen herum. Die waren zwar nicht so klar aufgeräumt und strukturiert, aber man bezahlte sie nicht mit echter Währung. Nur mit etwas Herzschmerz, Träumen und Hoffnungen.
Blind für meine Umwelt hatte ich den Weg von der Dienststelle bis in meine Straße zurückgelegt und erst ein leises Kichern riss mich aus meinen Gedanken.
»Juli!«, rief Julia und aufgeregt winkte sie mit beiden Armen. »Darf heute bei Papa bleiben und wir gehen auf den Spielplatz.« Und die ganze Straße hörte mit.
Warum machte ich mir eigentlich so viele Gedanken um Menschen, die ich nur ein oder zweimal in meinem Leben traf? Sie raubten mir den letzten Nerv und die Ruhe. Wo mir doch das Schicksal – oder was auch immer – diese kleine Familie wie ein Geschenk vor die Tür gelegt hatte.
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Kirschhelden
RomansaFür Lukas Held bricht die Welt zusammen: Seit Tagen schleppt sich der Witwer mit Schmerzen herum und plötzlich geht nichts mehr. Er muss ins Krankenhaus. Aber was soll mit seinen Kindern geschehen? Weil er sich nicht anders zu helfen weiß, bittet er...