12. Es ist nicht alles Gold, das glänzt

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Ja, ich mochte Tommy. Er war ein lustiger Typ und sehr unterhaltsam. Anders kannte ich ihn nicht. Wenn er es darauf angelegt hatte, konnte er eine ganze Gesellschaft bespaßen. Aber auf Dauer war das nichts für mich. In der ersten Woche war es noch amüsant, mit ihm über die Ausbildungszeit zu reden und Erinnerungen wachzurütteln. Dabei war es unumgänglich, sich auch Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen, die einem verletzt hatten und an die man sich sehr nur sehr ungern erinnern wollte. Über Peinlichkeiten ging ich schnell hinweg, weil ich ein Kandidat dafür war, in den einzigen Hundehaufen weit und breit reinzutreten oder mit Klopapier am Schuh über den Pausenhof zu gehen. Tommy klopfte sich auch nach dem zehnten Aufwärmen meiner blamablen Auftritte noch immer vor Lachen auf die Schenkel. »Weißt du noch das Gesicht von dem ollen Sowieso!«, rief er dann, »Oder wie die Andere guckte, als dir ein Vogel auf die Schulter geschissen hatte. Voll drauf auf das schwarze Hemd.« Mit dem Fleck hatte ich den halben Tag in der Klasse sitzen müssen und mich vor mir selbst geekelt.

Am Ende der zweiten Woche, in der Tommy täglich im Laden auf der Matte stand, lächelte ich nur noch müde, weil es nervig war, nur über Vergangenes zu sprechen. Als er dann das Missgeschick von Anja herauskramte, die sich beim Zuschneiden von Zweigen die Kuppe des kleinen Fingers abgeschnitten hatte, und sich darüber lustig machte, sah ich ihn böse an. »Das kann jedem passieren«, beschied ich ihm und widmete mich wieder meiner Arbeit: Dem Zuschneiden von Zweigen für ein großes Adventsgesteck.

Tommy musste meine Verstimmung bemerkt haben, denn in den folgenden Tagen wirkte er ruhiger und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so angepferzt hatte. Er sucht Anschluss, hielt ich mir im Stillen vor. Nur leider stahl er mir damit auch Zeit.

Gerade in der Adventszeit wurden gern weihnachtliche Gestecke als Mitbringsel für Besuche gekauft oder als Tischschmuck für Firmen- und Familienfeiern in Auftrag gegeben. Neben dem Valentins- und dem Muttertag war dies die umsatzstärkste Zeit des Jahres. Dass ich dann einen Kunden um Geduld bitten musste, da seine Bestellung noch nicht fertig war, warf kein gutes Licht auf das Geschäft.

Tommy nahm es nicht zur Kenntnis, obwohl er das sehr wohl wusste. Schließlich hatte er selbst einen Blumenladen geführt, wie er erzählt hatte. Jedoch kamen mir so langsam Zweifel, da er meine Kunden wie Störenfriede behandelte. Dass es sich hierbei auch um langjährige Kunden handelte, machte sein Verhalten nur noch schlimmer und unentschuldbar.

Tommy benahm sich einfach zu unprofessionell. Wenn er tatsächlich auf der Suche nach Arbeit wäre, wie er mal erwähnt hatte, hätte ich wesentlich mehr Initiative erwartet. Statt nur neben dem Arbeitstisch zu stehen, Kaffee zu trinken und den Kunden das Gefühl zu geben, sie wären unerwünscht, hätte er mit anpacken können. Dann würde ich auch ein gutes Wort bei meinem Chef für ihn einlegen, wenn er sich bewerben sollte. Er hätte sogar das kleine Büro nutzen dürfen, das mir auch als Umkleide diente. Der PC, der dort stand, war zwar altersschwach, doch für das Erstellen von Bewerbungsunterlagen war er ausreichend. Aber auf solche Gedanken schien er überhaupt nicht zu kommen. Stattdessen jammerte er mir seit einigen Tagen nur die Ohren voll, wie ungerecht diese Welt doch wäre. Nirgends gäbe es Arbeit für ihn und dabei wolle er sich zu Weihnachten doch selbst mit der neuen Spielekonsole beschenken, die demnächst in den Handel kommen soll. Nebenher trank er Kaffee mit viel Sahne und Zucker und bediente sich aus dem Bonbonglas, das direkt neben der Kasse stand. Es kostete ihn ja nichts.

Darüber, dass Tommy ständig bei mir auftauchte, machte ich mir sowieso meine eigenen Gedanken. Dass er Anschluss suchte, war ja gut und schön, aber ein Blumenladen war als Singlebörse genauso ungeeignet, wie ein Strickkurs. Er war an den Wochenenden auch oft im Club zu finden, trieb sich dort meistens nur an der Bar herum oder hielt sich in der Nähe von mir und meinen Freunden auf. Henry hatte mich letztens schon gefragt, ob wir siamesische Zwillinge wären. Ich wollte es nicht wahrhaben, aber die Vermutung keimte auf, dass hinter Tommys Anhänglichkeit mehr stecken musste.

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