25. ... ist wie Fahrradfahren

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Entgegen meiner Äußerung wusste ich sehr wohl, was ich hier tat und wusste, wohin es führen würde - wenn es eine Frau wäre, die ich im Arm hielte. Ich verschloss nicht die Augen davor, dass sich ein Mann gegen mich lehnte. Denn die Bartstoppeln, über die ich mit meinen Lippen strich, waren unverkennbar, ebenso wie der Duft von Julians Rasierwasser. Würde ich es mir erlauben, mit der Zunge seiner Kinnlinie zu folgen, könnte ich ihn schmecken. Und unter Garantie wäre der Geschmack ganz anders als der von Jana. Aber die Reaktionen waren sich so verdammt ähnlich, als ich seinen Mundwinkel küsste. Er hob sich, wie bei einem Lächeln. Nur kurz. Dann fühlte ich nur Nachgiebigkeit und Lippen, die leicht auseinander glitten.

Ich spürte jede kleine Geste, weil ich an dieser Stelle verharrte, und es ehrlich gesagt genoss. Ich spürte auch den Hauch, der über meine Wange strich. Er zerrte an meinen Überlegungen, wollte meine letzten Zweifel verwehen, ob ich Julian wirklich küssen sollte. Aber ich wollte es, weil ich es brauchte. Nähe. Berührungen, die nichts mit Vatersein zu tun hatten. Sie waren nur einen Atemzug entfernt.

Wie tief die Sehnsucht nach Intimität und Vertrautheit in mir verankert war, begriff ich erst jetzt, wo sie mir vorbehaltlos angeboten wurde. Ausgerechnet von einem Mann, dem ich bis auf Schwierigkeiten und Arbeit mit mir und den Kindern nichts weiter beschert hatte. Selbst das Angebot der Freundschaft hatte ich in den Sand gesetzt, wie ich mir selbst eingestehen musste. Alles war in die Brüche gegangen wegen meines Trotzes und meiner Sturheit. Julian hatte es mir gesagt, aber ich hatte es nicht begreifen wollen. Ich hatte es nicht wahrhaben wollen und mich lieber hinter meiner Erkrankung versteckt. Unbemerkt war ich in eine Komfortzone gerutscht, in der ich vor mich hindämmerte und zu ihr gehörte Julian. Seine Gegenwart, seine Ruhe. Er war mir zu selbstverständlich geworden. Wenn etwas war, konnte ich zu ihm gehen. Er hatte für mich immer ein offenes Ohr und für die Kinder immer Zeit. Ich musste erst wachgerüttelt werden, um zu verstehen, was ich an ihm hatte. Nein – was er mir bedeutete, sollte es heißen. Auch wenn wir uns in den vergangenen Wochen kaum gesehen und gesprochen hatten, wusste ich, er war da. Nur wenige Schritte entfernt. Ich kannte seinen Dienstplan und wusste, dass er sich am Wochenende mit Freunden traf. Ich liebte seinen Sinn für Humor, den Klang seines Lachens. Ich wusste, was er gern aß und welche Musik er mochte. Die Person Julian Kirsch war mir vertraut. Aber war das genug, um auf seine Forderung einzugehen? Was würde ein Kuss für die Zukunft bedeuten? Das Verhältnis wird sich zwischen uns ändern. Ob nun zum Schlechten oder Besseren wäre irrelevant. In jedem Fall hätte Julian im Hinterkopf, dass ich ihn nur geküsst hätte, um ihn bei mir zu behalten. Oft genug hatte ich ihm gesagt, dass ich ihn nicht verlieren will. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das mir warm unter der Haut simmerte, wenn ich eine Ahnung zuließ, aber nicht den Gedanken zu Ende denken wollte. Etwas, was zu absurd für mich war, um es überhaupt in Betracht zu ziehen. Etwas, dem ich mich stellen musste.

»Ich mag dich«, flüsterte ich an Julians Haut, bevor ich mich zurückzog. Nur ein Stück, aber weit genug, die Überraschung in seinem Blick zu sehen. »Sehr.« Noch mehr Erstaunen, das mich lächeln ließ.

»Wirklich?«, hakte er nach. »Das sagst du nicht nur so?«

»Sehe ich aus, als würde ich darüber Scherze machen?« Ich versuchte mich an einem Grinsen und fühlte, dass es schief war und mir entglitt.

»Nein, das tust du nicht.« Eine warme Hand legte sich auf meine Wange, ein Daumen strich über meine Lippen und wischte das Störrische fort. »Ich möchte sie fühlen, aber das ist noch immer deine Entscheidung. Ich kann sie dir nicht abnehmen.«

»Ich weiß«, gab ich zu. »Aber was ist, wenn das alles hier in die Brüche geht?«

Julians Lippen zuckten, eine hervorspitzende Zunge und ein Mundwinkel, der sich hob, als würde er ein Lächeln versuchen. Aber es verschwand so schnell, wie es zu sehen war. Das war herzerwärmende Unsicherheit, die mich berührte, weil ich genauso empfand, und unwillkürlich schlang ich den Arm fester um Julian. Ich wollte ihm Halt geben, ihn nicht los und womöglich gehen lassen.

Ein leises Ächzen entkam ihm und seine Wangen röteten sich. »Dann ist es halt so. Nichts ist für die Ewigkeit gemacht«, sagte er leise. Ein geflügeltes Wort, atemlos hervorgebracht, aber noch mit ausreichend Herausforderung, um nicht schwach und bedürftig zu wirken. Irgendwie liebenswert und süß, wie ich fand. Ein Grund mehr, ihn nicht verlieren zu wollen.

Julian so nahe zu sein, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren konnte, fühlte sich ganz natürlich an. Es war wie der Moment vor einem Kuss, nur einen Atemzug entfernt. Aber da waren auch noch immer die Zweifel im Hinterkopf. Klein und blass waren sie geworden und leise, wenn auch bissig. Sie waren da und sie drängten mir die Frage auf, ob ich wirklich einen Mann küssen wollte. Ob ich mich mit einer einzigen kleinen Berührung auf Julian einlassen wollte.

Die Antwort gab ich mir selbst, auch wenn sie nicht klar formuliert war und überbrückte die Distanz. Es war leicht, meinen Mund auf Julians zu pressen. Nur für einen Augenblick, aber lang genug, um zu spüren, wie weich sie waren und nachgiebig – und ich atmete noch immer. Die Welt schien nicht zu implodieren oder explodieren – sie schien zumindest nicht unterzugehen – und ich fragte mich, was für einen Blödsinn ich hier gerade dachte. Überhaupt dachte ich zu viel, statt nur zu fühlen.

»Entspann dich!«, hörte ich Julian sagen. Erst in dem Moment wurde mir bewusst, wie hektisch ich atmete, wie fest ich Julian hielt und wie hölzern sich meine Lippen anfühlten. »Entspann dich«, sagte er ein weiteres Mal. »Das hier ist kein Boxkampf!« Eine Hand legte er in meinen Nacken und seine Finger streichelten über meine Haut. Ohne Druck und ohne etwas zu fordern.
»Leichter gesagt, als getan!« Ich lachte zittrig, genoss zugleich die Berührung. »Ist schon einige Jahre her, dass ich jemanden geküsst habe.«

»Ist wie Fahrrad fahren. Man verlernt es nicht.«

Es hatte schon fast etwas Hypnotisches und Sinnliches, wie die Finger durch meine Haare kämmten. »Sich einfach wieder in den Sattel schwingen?«, fragte ich und seufzte. »Das klingt zu einfach.«

»Probier es. Es ist wirklich ganz einfach«, lockte Julian. Er zwinkerte mir zu und seine Finger zogen Kreise auf meiner Haut. »Ich stelle mich als Testobjekt zur Verfügung.«

»Ganz uneigennützig«, erwiderte ich und hob spöttisch eine Augenbraue. Dabei verlangte alles in mir danach, auf seinen Vorschlag einzugehen. Noch einmal die Lippen küssen. »Wie nobel! Willst du damit davon ablenken, dass ich deine Forderung erfüllt habe?«

»Das war kein Kuss«, widersprach Julian mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Das könnte als Versuch durchgehen. Aber nicht mehr.«

Ich neigte den Kopf. »Wie hast du ihn dir denn vorgestellt?«, fragte ich leise, lockte ihn genauso wie er mich zuvor und erhielt ein tiefes Stöhnen zur Antwort.

»Du legst es darauf an, dass ich mir einen Kuss hole!«, beschuldigte mich Julian. »Aber das ist noch immer dein Part und ich werde einen Teufel tun und ...«

Ich riss ihm die Worte von Lippen, brachte Julian zum Verstummen, indem ich meinen Mund auf seinen presste. Im ersten Augenblick war es schmerzhaft. Zu heftig trafen wir aufeinander, zu unnachgiebig und erst als Julian begriff, dass der Angriff nur der zweite Versuch eines Kusses war, den ich nicht sofort beendete, wurde er weich. Seine Lippen gaben nach, bewegten sich und mit jedem Druck, jedem Gleiten, sandten sie Hitze unter meine Haut. Julian nahm mich voll und ganz gefangen in der Berührung, im Streicheln seiner Finger, seiner Nähe, seinem Geschmack. Erst, als sich eine Hand unter mein Shirt stahl und dabei über den Beutel strich, kehrte ich in das Jetzt zurück. Es erinnerte mich daran, was vor einer gefühlten Ewigkeit der Grund dafür war, dass ich nun hier stand.

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