6. Alles auf Anfang

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Ich gebe zu, dass ich froh war, Julian am nächsten Tag nicht wiederzusehen und auch den Rest der Woche nicht. Stattdessen kam meine Mutter mit den Kindern und wir verbrachten die Zeit in der Cafeteria oder bei schönem Wetter auf dem Spielplatz. Dort saßen wir auf einer Bank und sahen den Kindern zu.

Bereits am Sonntag hatte sie mir berichtet, dass sie Julian einen Umschlag überreicht hätte. »Ein Tausender«, hatte sie gesagt. »Ich denke, damit müssten alle seine Unkosten abgedeckt sein.«
Ja, das müsste ausreichend sein. Trotzdem war es in meinen Augen noch immer viel zu wenig. Wie meine Mutter nur einen Tag zuvor noch festgestellt hatte, hatte er mal eben für die Kinder und für mich sein Leben auf den Kopf gestellt. Auch wenn ihre Vorgehensweise der unkomplizierteste und schnellste Weg war, wäre es meine Pflicht gewesen, ihm den Umschlag zu geben. Ich hätte mich bei ihm für alles bedanken müssen und es niemand anderen überlassen dürfen.

Klar, ich konnte mich damit herausreden, dass ich im Krankenhaus lag. Aber ich hätte Julian genausogut hierher bestellen können. Ohne Kinder und ohne meine Mutter. Nachdem sie mir an jenem Tag die Augen geöffnet hatte, hatte ich seltsamerweise den Eindruck, sie wolle Anstandswauwau spielen. Sie hatte Julian mit Argusaugen beobachtet, als würde sie befürchten, er könne übergriffig werden. Dabei war sie es. Bei ihr hatte ich das Gefühl, sie würde mir einen Teil meines Lebens streitig machen wollen, den ich bisher ganz gut gemeistert hatte. Ich wollte nicht, dass sie einen Keil zwischen Julian und mir trieb. Schwul oder nicht – er war ein Mensch, mit dem ich mich gern unterhielt. Und dass er mich als Mann interessant fand ... Nun gut. Reden wir nicht davon.

Es gab Zeiten, in denen ich auch geschwärmt hatte. Für Sabrina zum Beispiel. Ich war in der Achten und sie in der Abschlussklasse. Davor war es eine Mitbewohnerin in der WG über unserer Wohnung, die mich nur einmal angelächelt hatte und schon war es um mich geschehen gewesen. Jedes Mal, wenn ich sie gesehen hatte, waren meine Wangen und Ohren heiß geworden. Ein Jahr später war sie wieder ausgezogen und ich todunglücklich. Sowohl sie als auch Sabrina waren für mich unerreichbar und vermutlich hatten sie mich noch nicht mal zur Kenntnis genommen. Also warum sollte ich etwas dagegen haben, dass Julian für seinen Nachbarn schwärmt? Verbieten konnte ich es ihm nicht. Trotzdem konnte ich das Gefühl von Unbehagen nicht abschütteln, wenn ich auch nur daran dachte. Nein, Unbehagen war es nicht direkt, eher Beschämung oder auch Schamhaftigkeit, weil ich absolut keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte. Die Situation war mir ganz einfach peinlich, als dass ich es zur Seite schieben und ignorieren könnte. In solchen Momenten ärgerte ich mich maßlos über meine Mutter, weil sie nicht einfach ihre Klap... dass sie nicht einfach ihre Feststellung für sich behalten hatte. Sie hatte mir mit ihrer Offenbarung die Möglichkeit genommen mit Julian genauso ungezwungen umzugehen wie zuvor.

Bis zur Abreise meiner Mutter war er nicht mehr Gesprächsthema zwischen uns. Nur Julia und Jakob erzählten von ihm. Vorzugsweise wenn wir beim Abendessen zusammensaßen, eine Zeit, in der jeder von seinem Tag erzählen durfte. »Julian hat das gesagt!«, hieß es des Öfteren. Oder: »Julian hat es so gemacht!« Dann bekam meine Mutter so schmale Lippen, dass ich es erstaunlich fand, dass sie weiterhin essen konnte. Aber ich musste ihr zugutehalten, dass sie ihre Abneigung gegen Julian niemals die Kinder spüren ließ.

Abneigung war es tatsächlich, obwohl sie ihn zuvor als nett und liebenswürdig bezeichnet hatte. Vermutlich lehnte sie ihn aber nur deswegen ab, weil sie sich nicht sicher sein konnte, ob ich tatsächlich das Zusammenleben mit einem Mann in Betracht ziehe. Glaubte sie etwa, ich hätte es so notwendig und wäre bei Frauen so chancenlos, dass ich zu einem Mann ins Bett steigen würde? Nein, würde ich nicht. Aber das wollte ich meiner Mutter nicht auf die Nase binden. Sollte sie ruhig noch etwas im eigenen Saft schmoren. Vorzugsweise bis sie wieder in Hamburg war.

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