Es war seltsam, in der realen Krankenhauswelt anzukommen. Noch vorgestern war ich auf der Intensivstation, wo stets ein unterschwelliger Stresspegel zu spüren war, und seit gestern die Innere. Hier tobt das Leben, wie man so schön sagt. Alle zehn Minuten ist irgendwo eine Rufglocke zu hören und die schnellen Schritte der Schwestern, wenn sie an meiner Tür vorbei eilten. Gestern waren es noch ungewohnte Geräusche, doch heute achtete ich kaum noch darauf. Ich lauschte eher auf Schritte, die von der inzwischen vertrauten Routine abwichen. Was die Sache erschwerte, war, dass mein Zimmergenosse schlief und dabei leise schnarchte. Zwar nicht sonderlich laut, aber trotzdem nervenaufreibend, wenn man sowieso schon rastlos war.
Zum x-ten Mal griff ich nach meinem Handy und sah auf die Uhr. Keine zwei Minuten waren seit meinem letzten Blick vergangen. 14:43 Uhr. Ich war frustriert. Warten war für mich schon immer nervig. Aber nun würde es nicht mehr lange dauern. Julian war immer pünktlich und auch heute würde er wie versprochen um 15 Uhr hier sein. Mit Julia und Jakob.Seit einer Woche hatte ich meine Mäuse nicht mehr gesehen und ich vermisste sie so schrecklich. Kurzentschlossen stieg ich aus dem Bett, auf dem ich die letzte Stunde gelümmelt hatte. Glücklicherweise konnte ich das endlich wieder. Ohne Urinkatheter und in bequemen Sachen, war das Leben gleich viel angenehmer. Nur der Beutel am Bauch ... Ich versuchte, ihn zu ignorieren, was gar nicht einfach war. Bei jeder Bewegung spürte ich, dass da irgendwas auf meiner Haut klebte und sofort wanderte meine Hand dorthin. So wie auch jetzt, als ich in meine Latschen schlüpfte.
Der Stationsarzt meinte, dass sich mein Empfinden verbessern würde und die Stomaschwester hatte dies auch gesagt. Aber im Moment fühlte es sich nicht so an.
Plötzlich fand ich mich in Umarmungen wieder, auf die ich viel zu lange hatte warten müssen. Das kleine Klammeräffchen hatte seine Arme um mein Bein geschlungen, während der andere an meiner Hüfte hing.
»Nicht zu doll«, hörte ich Julian mahnen.
Sofort ließen die Umklammerungen nach, aber nicht ganz.
»Ich wollte gerade gucken, wo ihr bleibt«, erzählte ich und warf einen kurzen Blick auf das Nachbarbett. »Wenn ihr wollt, können wir runter in die Cafeteria. Dann stören wir hier niemanden.«
»Wir haben echte Blumen!«, verkündete Julia und hüpfte zu Julian, der ihr einen Strauß reichte. »Hab ich ausgesucht.« Lachend streckte sie mir ein wahres Ungetüm der Floristik entgegen, das Barbie alle Ehre gemacht hätte. Rosa in allen Schattierungen. Fehlte nur der Glitzer.
Nachdem für die Blumen eine adäquate Vase gefunden worden war, meldete ich mich bei den Schwestern ab und wir gingen in die Cafeteria. Die war gut besucht, doch fanden wir noch einen leeren Tisch etwas abseits. Während Julian sich um die Getränke und den Kuchen kümmerte, kuschelte sich Julia auf meinen Schoß. Jakob hatte sich einen Stuhl herangezogen und lehnte sich gegen mich.
»Ein hübsches Bild gebt ihr ab«, stellte Julian fest, als er das volle Tablett auf dem Tisch absetzte. Im nächsten Moment zückte er auch schon sein Telefon und machte ein Foto.
»Zeig! Zeig! Zeig!«, rief Julia, streckte die Hände nach dem Gerät aus, das Julian ihr überließ. Eilig rutschte sie von meinem Schoß runter und setzte sich stattdessen zu Jakob, der für sie auf seinem Stuhl Platz machte. Gemeinsam beugten sie sich über das Display und hin und wieder hörte ich beide leise Kichern.
Ich nahm es mit erhobener Augenbraue zur Kenntnis. »Du verwöhnst sie.«
Julian zuckte mit den Schultern. »Interessant ist nur, was man nicht haben kann. Sobald man es hat, verliert es seine Wirkung«, sagte er und begann, das Tablett abzuräumen. Kaffeetassen, Saftpäckchen und Teller mit verschiedenen Kuchenstücken bedeckten den Tisch. »Eine Schwester sagte, dass du Kuchen essen darfst, aber ich wusste nicht, welchen du magst«, erklärte er seine Auswahl.
Ich zog mir einen Teller mit Apfelkuchen heran. »Für Süßes bin ich immer zu haben und nach einer Woche ohne Zucker, zeigen sich Entzugserscheinungen.« Grinsend schob ich mir ein Stückchen in den Mund. Und es war köstlich. Mit Kaffee und Kuchen und meinen beiden Mäusen spürte ich wieder etwas Normalität, auch wenn wir nicht in einem Café saßen.
Wie Julian gesagt hatte, verloren die Kinder schnell ihr Interesse am Handy und stürzten sich regelrecht auf den Kuchen. Währenddessen berichtete Jakob von der Schule. »Du musst nur für einige Zensuren unterschreiben«, sagte er mit vollem Mund. »Juli wollte nicht. Irgendwas mit Erziehung hatte er gesagt.«
»Ich bin nicht dein Erziehungsberechtigter«, half Julian aus. »Und darf deshalb nicht einfach meinen Namen drunter setzen.«
Anklagend sah Jakob ihn an. »Und deswegen habe ich einen Eintrag bekommen, der auch unterschrieben werden muss.«
»Wir machen es ganz einfach: Morgen kommt ihr wieder zu Besuch und dann bringst du alles mit, was ich mir angucken und abzeichnen muss«, schlug ich vor. »Das sind meine Krankenhausaufgaben.«
Mit seinem vollgekrümelten Gesicht grinste mich Jakob an. »So machen wir das. Dann kann ich dir auch meine Matheaufgaben unterschummeln.«
»Du Lausejunge!«, rief ich und zerzauste seine Haare.
Die Stunde war viel zu schnell vorbei. Zum einen war ich traurig, mich von ihnen zu verabschieden, zum anderen war ich erleichtert, wieder in mein Bett klettern zu können. Es war erstaunlich anstrengend und ermüdend gewesen.
»Gehen Sie es langsam an«, hatte mir während der Visite der Stationsarzt gesagt. »Jeder Tag ist anders. Und auch wenn Sie denken, dass es nicht besser wird: Es wird besser.«
Daran hielt ich mich fest und an die Gewissheit, Morgen wieder meine Zwerge in den Arm nehmen zu können.
Das Telefon klingte und nach einem kurzen Blick auf das Display nahm ich den Anruf an. Juli, war dort zu lesen gewesen. Julian, dessen Namen noch immer zwei Buchstaben fehlten.
»Sie sind abgeholt worden!«, rief er aufgeregt. »Wir waren gerade aus dem Auto raus, als sie auch schon ...«»Wer?«, verlangte ich zu wissen. »Wer hat sie geholt?«
Tief atmete Julian durch. »Ich weiß nicht. Ein älteres Ehepaar, glaub ich. Es ging so schnell und sie hatten irgendwas von Enkelkinder gefaselt und Jugendamt und ...«
»Waren sie mit einem Auto?«, unterbrach ich ihn ein weiteres Mal. »Hast du das Kennzeichen gesehen?« Mir schlug das Herz bis zum Hals. Gedanken und eine Ahnung formten sich, die aber noch nicht greifbar waren.
»Nicht ganz. Nur die letzten Zahlen. Aber ... es war ein silberfarbenes Auto. Weißt du, wer es war?« Deutlich war Julians Verzweiflung zu hören. »Ich würde ja zur Polizei gehen, aber dann wird auch das Jugendamt auf der Matte stehen und ... sie haben ihre Namen gewusst und dass du im Krankenhaus bist. Sie haben alles gewusst.«
»Das müssen meine Schwiegereltern gewesen sein – und ich weiß auch, woher sie alles wissen.« Mühsam zwang ich mich zur Ruhe, drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Zumindest hielt es mich soweit zurück, dass ich nicht gleich explodierte. »Meine Mutter wird bei ihnen angerufen haben.«
»Und was wird nun geschehen?«, hakte Julian nach. »Mir tut es um die Kinder leid. Sie wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah – und Julia hat so sehr geweint.«
Wieder musste meine Nasenwurzel leiden. »Ich ruf meine Mutter an. Notfalls muss sie herkommen und sich um die Kinder kümmern, bis ich aus dem Krankenhaus kommen. Eine andere Lösung sehe ich gerade nicht.«
»Okay«, grummelte Julian und allein schon dieses eine Wort machte deutlich, wie zufrieden er mit der Situation war. »Ich warte.«
Meine Mutter war ganz still, als ich ihr erzählte, was passiert war. »Das wollte ich nicht«, sagte sie schließlich. »Ich wollte Gerda und Klaus nur unter die Nase reiben, wie weit ihre schreckliche Halsstarrigkeit dich getrieben. Zum Nachbarn musstest du gehen, damit er sich um Julia und Jakob kümmert. Dass sie es so drehen ... Junge. Das habe ich nicht gewollt. Sag, wie ich dir helfen kann. Ich komme runter.«
»Wir werden Rückendeckung von dir brauchen. Ich traue es ihnen zu, mir einen Strick daraus zu drehen, dass sich Julian als mein Lebensgefährte ausgegeben hat, um auf die Intensivstation zu gelangen.«
Mutters »Ohje!« ging in einem Seufzen unter. »Wir kriegen das wieder hin«, versicherte sie mir. »Du bekommst deine Kinder wieder.« Hoffnung klang in meinen Ohren anders.

DU LIEST GERADE
Kirschhelden
RomanceFür Lukas Held bricht die Welt zusammen: Seit Tagen schleppt sich der Witwer mit Schmerzen herum und plötzlich geht nichts mehr. Er muss ins Krankenhaus. Aber was soll mit seinen Kindern geschehen? Weil er sich nicht anders zu helfen weiß, bittet er...