14. Märchenstunde

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Julian hatte es sich zwischen Jakob und Julia auf der Couch gemütlich gemacht. Oder vielmehr: Er hatte sich hingesetzt und keine drei Minuten später benutzten ihn meine beiden Mäuse als Kissen und Lehne, um bequem fernsehen zu können, und von dem man hin und wieder eine kleine Streicheleinheit bekam. Nur bewegen durfte sich Julian nicht. Dass noch einige Pizzaecken auf seinem Teller lagen und der außerhalb seiner Reichweite war, war irrelevant. Meine Kinder waren satt und sahen zufrieden aus. Und müde. Julias Lider fielen immer wieder zu und ähnlich erging es Jakob.

»Ab in die Betten mit euch«, sagte ich. »Ihr könnt ja kaum noch die Augen offenhalten!«

»Och nööö!«, stöhnte Jakob und klang dabei wie ein Alter. »Schon?« Trotzdem stand er auf und bewegte sich so langsam und kraftlos, dass ein Hundertneunjähriger ihn überholt hätte. Erst, als Julia nach einer Geschichte verlangte, wurde er lebendiger. »Ein Märchen? Mama hatte mir immer ein Märchen vorgelesen.«

Augenblicklich schwand Julias Begeisterung. »Mama?«, fragte sie und Traurigkeit ließ ihre Stimme zittern. »Mir nicht.« Nein, daran konnte sie sich nicht erinnern, wie sie in Janas Arm lag und sich Jakob unter den anderen gekuschelt hatte. Mit leiser Stimme hatte sie kleine Geschichten erzählt. Von Schmetterlingen, die über Blumenwiesen gaukelten und von kleinen frechen Mäusen und musizierenden Grillen.

Noch immer hatte ich ihre Stimme im Ohr und wünschte das Gleiche für Julia.

Julian ging vor ihr in die Hocke und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Was hältst du davon, wenn ich dir und Jakob ein Märchen erzähle. Ein Märchen über einen vergessenen Ort.«

Skeptisch schob Julia die Unterlippe vor. »Echt?« Ihre Stimme klang piepsig und ihr Gesicht begann zu leuchten, als Julian nickte. »Echt«, bestätigte er. »Aber zuerst waschen, Schlafsachen an und Zähneputzen nicht vergessen.«

Erstaunlich. Es gab kein Gejammer und kein Gequengel.
Ich beobachtete alles und musste Julia nur beim Putzen der Zähne helfen, während sich Julian um die Küche kümmerte.

Keine Viertelstunde später hockten Julia und Jakob wieder auf dem Sofa, nun jedoch in Decken gewickelt, und sahen erwartungsvoll Julian an, der wieder zwischen ihnen saß. Auf dem Couchtisch flackerten einige elektrische Teelichter und die Stehlampe war gedimmt. Im Zimmer hing noch der Geruch der Pizza sowie der Duft der Tannenzweige, die ich am Nachmittag gekauft hatte. Der Moment wirkte heimelig und gemütlich, wie man sie sich für die Vorweihnachtszeit wünscht.

»Ihr kennt bestimmt einige verlassene Orte«, begann Julian zu erzählen. »Lost Places nennt man sie heute, aber einst lebten dort Menschen. Ich möchte euch heute von einem solchen Ort erzählen. Vielleicht habt ihr schon von ihm gehört oder habt ihn sogar besucht. Es ist die Villa Kolbe in Radebeul.« Fragend sah er erst die Kinder an, die ihn ihrerseits wie einen leuchtenden Weihnachtsbaum ansahen, dann mich. Ich schüttelte den Kopf.

»Das Haus gleicht einem kleinen Schloss mit Türmchen und Erkern inmitten eines verwilderten Gartens. Aber der ist verzaubert, wie auch die Villa.«

»Ein Dornröschenschloss«, flüsterte Jakob und von Julia war ein leises »Cool!« Zu hören.

Einst lebte dort ein kleiner Junge. Bis auf seinen Hauslehrer, der ihn täglich aufsuchte, begegnete er niemandem. Nicht seiner Mutter und seinem Vater, keinem Bediensteten, nicht einmal einer kleinen Maus. Alle Räumen waren edel, schön und bequem eingerichtet. In den Kaminen flackerten Feuer und am Abend war sein Bad gerichtet. Auch Speisen und Getränke standen für ihn bereit, sobald es ihm danach verlangte, und stets waren es Gerichte ganz nach seinem Geschmack.

Nicht eine einzige Seele war in diesem Haus zu finden, sobald der Hauslehrer am Abend die Villa verließ. Auf seine Bitten, dass er über die Nacht bleiben möge, schüttelte der Lehrer den Kopf. »Es ist mir verboten, hierzubleiben, sobald die Sonne untergegangen ist.«

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