Kapitel 15 - Wiedergeburt

6 1 0
                                    

Wahrnehmung: Umso länger man sich in der Hölle aufhält, desto stärker verschiebt sich die Wahrnehmung dieser. Zu Beginn hat man den großen Kontrast zu der Welt der Lebenden, in welcher alle Sinne um einiges mehr beansprucht werden. In welcher die Zeit kostbar, das Licht hell und die Berührungen, Gerüche, bis hin zum Geschmack, zärtlich und vielseitig an des Menschen Oberfläche kratzen. Danach wird es dunkel und je nach Kraftbesitz sind die Sinne abgestumpfter. Wenn sie es nicht sind, riecht es nach Blut und Verwesung, es ist kalt und der Mund ist trocken. Jetzt könnte man meinen, dass die Hölle dementsprechend beinah unerträglich wäre und man mit weniger Kraft besser dran sei, allerdings passiert nachdem man sich eingelebt hat, etwas Zeit vergangen ist, etwas interessantes. Man gewöhnt sich an den Geruch. Plötzlich findet man ihn nicht mehr abstoßend. Manchmal hat man das Gefühl den schwarzen Himmel in einem Blauton wahrzunehmen, sowie man einen Grünton sieht, wenn man seinen Blick nur lange genug auf ein knalliges Rot fokussiert und man spürt so etwas wie Phantomwinde, Luft, hat das Gefühle zu leben und einen funktionierenden Körper zu besitzen. Im Grunde ist Wind in der Hölle auch nicht unmöglich, da zwar die Erddrehung und die Gezeiten fehlen, aber hin und wieder ähnlich starke Kräfte auf sie einwirken. Im Stile des Schmetterlingseffekt, können durch kleine Eruptionen, Detonationen, oder Druckveränderungen bspw. sogenannte Staubrosen entstehen. Feinstaub der Kilometerweiter durch leeren Raum gewirbelt wird und zu weilen Tage braucht, bis er sich wieder legt. Was die Zeit-Wahrnehmung betrifft, so verhält es sich in der Hölle wie im morgendlichen Halbschlaf. Als wäre man sehr müde und würde von einem Wecker zum Nächsten dösen, aber auch den ein oder Anderen verschlafen. So vergehen ganze Tage, mit der Zeit gar Wochen, ohne dass man es wahrnimmt, wirklich merkt. Einem wird weder Langweilig, noch hat man, sollte man sich kein konkretes Ziel suchen, das Bedürfnis aktiv irgendetwas tun zu müssen.

Zurück zu... Was? Die Flammen des Fegefeuers. "Thea!" Ein lauter Schrei, eine bekannte Stimme. Es ist so warm, aber nicht heiß. Kein stechender Schmerz und kein Leid. Thea fühlte sich so geborgen wie schon lange nicht mehr. ... Plötzlich wurde es dunkel. Ohne Licht hing sie in der Schwebe, in Embryostellung, doch nicht verkrampft. Sie konnte sich nicht bewegen, denn um sie herum waren weiche, organische, doch auch einengende Wände. ... Wände, jedoch hatte sie nicht das Gefühl eingesperrt zu sein, sondern als würden Diese sie beschützen. Ihren zerbrechlichen, verletzlichen nackten Körper. Sie war unter Wasser, nein, diese dickflüssige, schleimige, warme Masse die sie einhüllte, war kein Wasser. ... War sie in einem Bauch? Das war ihr erster Gedanke, doch so fühlte es sich nun mal an. Logisch, wenn sie ihre Position analysierte, doch unwahrscheinlich wenn sie darüber nachdachte was ihr zuletzt widerfahren war. Sie hatte geschrien und dann war es dunkel geworden. Wer weiß, ... vielleicht gibt es eine Möglichkeit aus der Hölle wiedergeboren zu werden. Sie war kein Buddhist, aber vielleicht ein Gast und wusste es nicht. Nein, diese Situation war ihr unbegreiflich, doch wer kennt schon die Möglichkeiten? Wer weiß was in der Hölle alles möglich ist? Wer weiß das schon?

Ohne darüber nachzudenken was sie vorfinden würde, legte Thea ihre Hände auf ihre Kniee. Deformierte Haut. Einkerbungen. Sie war nicht wiedergeboren, sie hatte überlebt und befand sich mit ihrem verletzten Körper, ihrem ... zum Teil scheinbar geheiltem Körper, an einem unbekannten Ort. Erneut tastete sie die glibschigen Wände ab um nach einem Hinweis, einem Ausgang zu suchen. Ihr Rücken ragte nach oben, jedoch drehte sie sich nun auf die Seite, um jene Stellen zu erreichen, die in ihrem toten Winkel, über ihr, gelegen hatte. Eine Naht. An der höchsten Stelle der vermeintlichen Fruchtblase, musste eine Öffnung gewesen sein. Ein gerader Schnitt, doch mit einer dünnen, sehr stabilen Schnur verschlossen. Eigentlich wäre es für Thea kein Problem gewesen sich mit Gewalt zu befreien, doch was wenn sie wirklich im Bauch von jemandem war und diese Person somit verletzen, oder gar töten würde. So ein Schwachsinn. Sie war viel zu groß um in jemandes Bauch zu sein. ... Mit einem Stoß ihrer aneinandergereihten Fingerspitzen durchstach sie das Gewebe direkt neben der Naht. Keine Bewegung und kein Zucken, sie war ganz sicher in keinem Menschen. Der Geschmack von Blut. Schnell nahm sie die andere Hand zur Hilfe und zog den entstandenen Riss in die Länge, dann quetschte sie sich, Kopf voran, hindurch.

Nyctophilia ✶ Regeln der HölleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt