37. Kapitel - Einer dieser Tage

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Es war einer dieser Tage, an denen meine Stimmung noch weiter unten war, als üblich. Meine Gedanken waren geprägt von Hoffnungslosigkeit und ich war überzeugt, dass diese Welt ohne mich besser dran war.
Ich hatte im Grunde genommen Nichts und Niemanden mehr, für den es sich zu kämpfen lohnte. Eine feste Bezugsperson innerhalb der Familie hatte ich sowieso noch nie, aber ich hatte all die Jahre Mareike, den Sport und meine Mannschaft und zumindest die Wunschvorstellung, dass meine Familie mich liebte. Aber das alles hatte ich verloren. Ich war nicht einmal mehr als Ziel aller Wut meines Onkels Peter mehr gut. Sicher, irgendwie kamen Fiona und auch ihre Mutter in mein Leben, die sich um mich sorgten und diese Fürsorge war auch nicht unangenehm, ich traute ihr nur nicht. Ich war mir so sicher, dass ich jemand war, der unmöglich zu mögen war. Ich war davon so überzeugt, dass ich Fionas Nachrichten alle unbeantwortet ließ, im Glauben, sie schrieb mir nur aus Höflichkeit. Es kam mir gar nicht mehr in den Sinn, dass mich jemand wirklich ernsthaft gern haben könnte.

Ich stand am Fenster meines Zimmers in der Psychiatrie und starrte nach draußen in den Regen. Dicke Tropfen lieferten sich ein Wettrennen an der kühlen Scheibe. Auf meinem Plan stand jetzt eigentlich Gruppentherapie, doch ich stand hier, unfähig, am Leben teilzunehmen. Es klopfte an meine Tür und ich sparte mir eine Antwort, es würde ja sowieso eingetreten werden. Weil ich das Gefühl hatte, es wäre unanständig, nicht zu reagieren, drehte ich mich zur Tür um. Eine Pflegerin, die ich zwar schon gesehen hatte, mich aber an ihren Namen nicht erinnerte, betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich, blieb aber stehen. „Du wirst von deiner Gruppe vermisst.", sagte sie, ihre Stimme klang sanft und ich sehnte mich danach, mich von diesem sanften Klang einwickeln, mich umarmen und forttragen zu lassen. Meine Schultern sackten noch ein bisschen mehr zusammen. „Reine Statistik.", erwiderte ich und drehte mich wieder von ihr weg. „Ich werde nur vermisst, weil es nur sieben statt acht Teilnehmern sind. Ich könnte jeder Beliebige sein. Ich als Person fehle nicht. Es fehlt nur ein achtes, menschliches Wesen."
Kurze Stille im Raum, ich hörte Papier rascheln, einen Schlüssel leise klappern und langsamen, gleichmäßigen Atem. Es war nicht meiner. Ich versuchte mich so leise und klein wie möglich zu machen, keinen Platz einzunehmen. Es war einer dieser Tage, an denen meine Existenz mir furchtbar anstrengend war. An denen ich mir zu viel war.
Ein Fremder würde mich als gut erzogen beschreiben. Ich beschreibe mich als mit Angst erzogen. Ich wusste nie, was gute Manieren waren, wie man sich zu benehmen hatte, um Anderen nicht auf den Schlips zu treten. Ich fiel nur deshalb nie unangenehm auf, weil ich schon früh gelernt hatte, dass ich prinzipiell nur alles falsch machen konnte. Dadurch war ich schon immer still, rührte mich nicht, zeigte keine Reaktionen auf Reize. Warum mir das gerade durch den Kopf ging? Ich widersetzte mich hier in der Klinik einer Regel. Die Therapien hatten eine Erscheinungspflicht, welche ich verletzte. Ich befürchtete, dass das auf Außenstehende unerzogen wirkte und hatte Angst, dass die Pflegerin genervt von mir war, von mir und meinem unmöglichen, fehlerhaften Verhalten. So wollte ich nicht gesehen werden, denn so war ich nicht. Ich wollte doch nie etwas falsch machen. Trotzdem stand ich hier am Fenster, nahm nicht an der Gruppentherapie teil und fragte mich, ob meine Angst vor Fehlern der Hoffnungslosigkeit weichen musste.
„Ema, aber du bist unsere Patientin und niemand anderes. Deine Gruppe vermisst dich und niemanden sonst.", die Pflegerin scheint ihre Worte mit bedacht gewählt zu haben. Ich trat vom Fenster weg und sah sie wieder an. Sie lächelte schwach, schien mich ermutigen zu wollen. „Ist es heute schwer für dich?", wollte sie wissen und setzte sich auf den Holzstuhl am Tisch, nicht weit neben mir. Ich musste nun etwas zu ihr herabblicken und fühlte mich durch diese Positionen, in denen wir uns jetzt befanden, zunehmend unwohl. Ich wünschte, sie wäre stehen geblieben. Ich war mir nicht sicher, wohin ich gehen konnte, wollte sie nicht kränken, indem ich in eine andere, möglicherweise falsche Position wechselte. Deshalb blieb ich stehen, begann zu schwitzen. Ich wollte gar nicht, dass sie ging oder mich in Ruhe ließ. Ich genoss die Ruhe, die sie ausstrahlte, die Aufmerksamkeit, die sie mir schenkte und dass sie mir damit das Gefühl gab, etwas wert zu sein. Aber dennoch war mir diese Situation so unangenehm, dass mein Körper reagierte, weil mein Kopf das Verbot erteilt hatte, die Situation für mich angenehmer zu machen. Ich hätte mich aufs Bett setzen können und logisch betrachtet fiel mir nichts ein, was daran falsch sein könnte, aber die Angst, es könnte doch etwas geben, war einfach zu groß, wodurch ich doch irgendwie hoffte, sie würde bald gehen, der Boden würde sich auftun und ich würde darin verschwinden, für immer.
Sie schien mein Unwohlsein nicht zu bemerken oder sie konnte es nicht einordnen, denn sie blieb sitzen, blickte mir weiterhin unbeirrt in die Augen und wartete geduldig auf meine Antwort. „Ich glaub schon. Ich glaub heute ist alles schwerer", erwiderte ich dann endlich und wünschte, ich hätte gelogen. Hätte einfach gesagt, dass alles gut war, nichts schwer war, ich sofort in die Therapie gehen würde und dann nie wieder negativ auffällig werden würde.
„Möchtest du, dass ich Frau Berger bescheid sage? Vielleicht hat sie Zeit für dich, vielleicht könnt ihr einen Termin finden, damit sie dich unterstützen kann?". Alles in mir schrie nach dieser Art der Aufmerksamkeit, ich gierte förmlich danach und im selben Moment war mir das unangenehm, ich schämte mich dafür, glaubte dass ich dadurch bedürftig und egoistisch wirkte und lehnte daher ab. „Bist du sicher? Das wäre kein Problem. Was möchtest du denn dann jetzt machen?", fragte sie, immer noch ohne Spur von Ungeduld. Ich zuckte die Schultern, mir war inzwischen unfassbar heiß. Ja, was wollte ich eigentlich? Hier ewig so rumstehen und rumdrucksen wie ein kleines Kind? „Sollen wir zusammen zur Gruppentherapie gehen? Ich begleite dich bis zur Tür?", bot sie an und überschritt damit aus dem Nichts die Grenze, was ich an Aufmerksamkeit zulassen konnte. Ohne Warnzeichen oder langsame Steigerung, war es mir plötzlich zu viel, ich schwitzte noch mehr, wurde unruhig. Ich lehnte alles ab, was sie mir anbot und letztendlich verließ sie das Zimmer mit der Bitte, ich möge mich melden, bräuchte ich Unterstützung. Die Anspannung wich aus meinem Körper. Leere und Niedergeschlagenheit erfüllten mein Inneres, Trauer und das Gefühl, unvollständig zu sein. Ich zog mir meine Sweatjacke aus, die Hitze wich langsam von mir. Dann ließ ich mich erschöpft auf das Bett fallen, schloss die Augen und erinnerte mich an die letzten fünfzehn Minuten, immer und immer wieder. Spielte vor meinem inneren Auge die Situation immer wieder ab, teilweise in leicht veränderter Form, machte mein Verhalten immer schlimmer und schämte mich in Grund und Boden, so zu sein, wie ich war. Ich hasste mich. Ich hasste mich Abgrundtief.

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