Unentschlossen drehe ich mich vor meinem Spiegel im Kreis. Ich hatte mich in meine Zielhose gequetscht und sogar den Knopf zu bekommen.
Damals saß sie zwar nicht ganz so stramm, aber ich passte wieder rein. Zwischen meinen Oberschenkeln hatte sich eine kleine Lücke gebildet. Ich hatte ein sehr schmales Becken, daher grenzte es an ein Wunder, dass ich dort überhaupt eine Lücke haben konnte.
Ich trug ein enges, weißes Top unter welchem sich meine Rippen abzeichneten. Ich hatte kaum noch Oberweite.
Auf meinem linken Arm waren noch deutlich die roten Narben zu sehen. Schnell zog ich meine dünne Jacke über und versteckte somit Narben, Rippen und nicht vorhandene Oberweite.
Ich hatte gleich eine Verabredung mit Fiona in dem Café in der Nähe unserer Schule.Ich ging die Treppen hinunter und bückte mich nach meiner Tasche. Als ich mich wieder aufrichtete, wurde mir schwarz vor Augen und ich griff schnell nach dem Treppengeländer. Das Blut rauschte in meinem Kopf und langsam konnte ich wieder sehen. Ich war spät dran, also beeilte ich mich zur Bushaltestelle.
Es war Hochsommer und unfassbar warm. Schon nach zehn Metern fühlte ich mich schlapp und spätestens an der Haltestelle fing ich an zu schwitzen.
Ich setzte mich auf die Bank. Von der kleinen Anzeige konnte ich ablesen, dass der Bus fünf Minuten Verspätung hatte.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass sich eine Person der Haltestelle näherte. Ich sah hin und und hielt augenblicklich den Atem an.
Mareike kam gerade auf mich zu.
Sie sah mich an. Sah weg.
Sah mich wieder an. Erkannte mich.
Sie wirkte geschockt. Grüßte jedoch nicht.
Irgendwo, ganz tief in meiner Herzgegend spürte ich jetzt einen kleinen, aber fiesen Stich.
Die Minuten bis der Bus kam, erschienen mir unendlich lang und als er endlich kam, stieg Mareike so schnell ein und ging bis auf die letzten Plätze durch, dass ich mir beruhigt einen Sitz weiter vorne aussuchen konnte.
Ich hatte Mareike schon länger nicht mehr gesehen und in dieser Zeit war es mir immer leichter gefallen, ohne sie mein Leben fortzusetzen, aber wenn ich sie sah, riss das jedesmal die Wunde wieder ein Stück weit auf.
Doch ich hatte heute keine Zeit, mir weiter Gedanken über sie zu machen, denn ich beschäftigte mich nun einzig und allein mit der Tatsache, dass ich in wenigen Minuten zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Café betreten würde. Konfrontationstherapie, nannte Fiona das. Sie versprach mir, dass ich nichts essen musste. Dennoch war ich verdammt nervös und mir wurde schon beim Gedanken an die vielen Kuchen und Desserts ganz mulmig. Süßspeisen waren zu einem ganz großen Tabu geworden und ich war inzwischen schon so weit, dass ich selbst Wasser nicht trank, welches nur neben einem Muffin stand. Ich hatte Angst, dass das Wasser nicht vielleicht doch die Kalorien aufgenommen hatte.
Es grenzte an ein Wunder, dass ich Fiona überhaupt zugesagt hatte. Aber ich würde vermutlich alles tun, was sie wollte, so sehr hatte ich mich inzwischen an sie gestützt. Sie bewies mir jedesmal aufs Neue, dass ich ihr ein bisschen vertrauen konnte.Der Bus hielt an und ich stieg aus. Mareike blieb sitzen und ich war mir sicher, sie sah mir hinterher, als der Bus weiterfuhr. Ich blieb stehen und sog jedes Detail des nun verlassenen Schulhofes auf. Ich war nur noch selten hier, seit ich nicht mehr zur Schule ging, was schon seit ein paar Monaten der Fall war. Es parkten nur wenige Autos auf dem Parkplatz.
Ein Eichhörnchen kletterte auf einem Baum direkt neben der Sporthalle, in welcher wohl irgendein Training stattfand. Ich konnte das Quietschen der Schuhe auf dem Boden hören. Die Tür stand offen, doch ich konnte im Vorbeigehen nichts sehen.Fiona hatte mir geschrieben, dass sie schon da war und ich beeilte mich.
Etwas außer Atem kam ich wenige Minuten später ebenfalls am Café an. Ich war vor dem Café stehen geblieben. Mit Sicherheitsabstand natürlich.
Entschlossen hielt ich mich mit einer Hand an meiner Tasche fest und betrat das Café.
Mir schlug der Geruch von Kaffee und Kuchen entgegen und von einem der hinteren Tische konnte ich bereits Fiona sehen. Sie saß mit dem Rücken zu mir und schien zu zeichnen. Ich ging auf sie zu und begrüßte sie.
Sie grinste mir freudig entgegen. „Und, war's schlimm?", fragte sie und klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Ich setzte mich ihr gegenüber und schüttelte den Kopf. Fiona neigte ihren Kopf zur Seite. Ich seufzte. „Ein bisschen.", gab ich dann zu.
„Ich bin stolz auf dich." Fiona klappte ihr Notizbuch zu und steckte den Bleistift weg.
„Ich habe dir auch einen Caramel Cappuccino bestellt.", sagte sie beiläufig, während sie das Buch in ihre Tasche steckte. Ich sah sie erschrocken an. „Ich hab nur gesagt, dass du nichts essen musst.", erklärte sie mir und formte ihre Lippen zu einem Kussmund. Ich lächelte nervös- schief und sah mich nach dem Notausgang um.
So ein Cappuccino hatte mehr Kalorien, als ich mir über den Tag verteilt erlaubte.
„Ich habe Mareike gesehen.", erzählte ich.
Vor ein paar Tagen hatte ich Fiona bei einem Telefonat bis ins kleinste Detail von Mareike erzählt. „Hat sie dir wieder gesagt, dass du gerne sterben kannst?", schnaubte Fiona verächtlich. Ich schüttelte den Kopf, ein bisschen zu heftig, denn mir wurde schwarz vor Augen. Ich kniff die Augen zusammen. „Nein. Genau genommen hat sie gar nichts gesagt. Nur geschaut. Es hat glaube ich ein bisschen gedauert, bis sie mich erkannt hatte.", meinte ich. Fiona lachte. „Du siehst zwar scheiße dünn aus, aber erkennen tut man dich trotzdem."
Ich war mir nicht sicher, ob ich das als Hinweis auffassen sollte, oder als Kompliment, daher starrte ich lieber den Kellner an und hoffte, dass er stolperte und die Tassen fallen ließ, die er ganz offensichtlich zu uns tragen wollte. Dann würde ich ihm versichern, dass das kein Problem ist und er mir einfach ein Wasser bringen soll. Eins, das nicht bei den Desserts aufbewahrt wurde.
Doch der trat leider Schritt für Schritt sicher auf und stellte wenig später zwei große Tassen auf den Tisch. Ich ließ unauffällig das Päckchen Zucker verschwinden, bevor Fiona auf die Idee kam, dass ich den in den Cappuccino geben musste.
Fiona nippte an ihrem Kaffee und beäugte, wie ich in meiner Tasse umherrührte.
„Wie war dein Termin?", fragte sie und stellte ihre Tasse ab.
„Naja, viel Fragerei. Manchmal unangenehm, weil ich nicht antworten wollte. Oder konnte. Wer weiß.", seufzte ich.
Fiona schob die Tasse wieder zu mir, die ich gerade wenige Zentimeter von mir weg geschoben hatte.
„Dann musst du das mit mir üben. Über das Thema zu sprechen.", grinste sie.
Ich sah sie an. In ihrer Nähe kam mir alles so leicht vor. Als gäbe es keine dumme Vergangenheit und kein falsches Wort, wenn ich über Peter spreche.
„Deine Schwester war sehr krank und du hast bei deinem Onkel gelebt. Der ist Alkoholiker und war nicht besonders nett. Weiter sind wir noch nicht gekommen. Komm, ein weiteres Detail.", forderte sie mich auf.
Das waren die Infos die jeder bekam, der nachbohrte. Genau das, und nicht mehr.
Ich überlegte. „Ich musste ihm immer Essen kochen.", sagte ich dann. Das war ein neues Detail. Sie hatte ja nicht gesagt, was es für ein Detail sein sollte.
„Ok, und da hast du dich so satt gesehen, dass du jetzt nichts mehr isst?", fragte sie mehr sich selbst, als mich und war sich nach wie vor ziemlich sicher, dass mein Onkel der Ursprung meiner psychischen Störung war. „Achman Ema... Wirst du je zulassen, dass ich dich kennenlernen darf?", sagte Fiona müde. Ich kaute unsicher auf meiner Lippe. „Aber du darfst mich doch kennenlernen.", sagte ich. „Ich erzähl dir gerne von meinen Cousinen, Neffen, allen vergangenen Geburtstagen, meiner Lieblingsfarbe..."
Fiona lächelte. „Ich will aber dich kennenlernen. Nicht die Ema, die du dir zusammen gepuzzelt hast. Egal, was für ein schreckliches Leben die richtige Ema hatte. Ich will für dich da sein, ich will wissen, was dich so verletzt hat, dass du nie wieder vertrauen konntest.", erklärte Fiona leise. Plötzlich wirkte sie super ernst und nachdenklich und ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
Ich wollte sie nicht enttäuschen und fühlte mich unglaublich mies, dass ich ihr einfach nicht davon erzählen konnte. Obwohl sie mich nie unter Druck setzte oder wirklich enttäuscht war, wenn ich ihr eine Frage nicht beantwortete oder auswich, wusste ich, dass sie nichts mehr wollte, als einfach nur mich kennenzulernen.Ich machte mir einen Vorwurf nach dem nächsten, sackte immer mehr in mich zusammen, als Fiona mich wieder hoch zog.
„Wenn du kalten Cappuccino magst, rührst du nochmal eine halbe Stunde in deiner Tasse rum. Ich hab Zeit. Ich bleib mit dir hier, bis du zumindest die Hälfte getrunken hast.", verlangte sie in ihrer gewohnt direkten Art und ich musste lachen.
Ich trank den süßen Cappuccino in einem Zug exakt bis zur Hälfte aus und grinste Fiona an. Die schüttelte lachend den Kopf.Wir gingen gemeinsam zur Haltestelle. Fiona wohnte hier und musste ein Stück weiter gehen, als ich zur Bushaltestelle gehen musste und wartete mit mir. Als mein Bus herfuhr, sagte ich aus heiterem Himmel: „Er war gewalttätig. Mein Onkel. Immer wenn er betrunken war. Was er ständig war." Fiona verstand sofort, war zuerst sprachlos und lächelte dann dankbar. Sie umarmte mich und ich stieg in den Bus ein.
Das war ein kleiner Adrenalinkick gewesen und mein Herz schlug noch immer wie verrückt. Ich war mir nicht sicher, ob das zu impulsiv war und ob ich es noch bereuen würde, das ausgesprochen zu haben.
Aber rückgängig machen konnte ich es sowieso nicht mehr
Wie nichts im Leben.
Kein gesagtes Wort, kein Schlag.
Nichts konnte zurückgenommen werden.
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Breath
Fiksi RemajaVoller Zuversicht startet Ema ein neues Leben, doch schon bald wird ihr klar, dass ein Leben gebaut aus Lügen nicht funktionieren kann. Sie muss sich ihren Ängsten stellen und sich mit Peter konfrontieren lassen. Eine schwere Zeit steht für sie und...