3. Kapitel - Drache

761 48 0
                                    

Verwirrt wachte ich auf. Mir tat jeder einzelne Zentimeter meines Körpers weh. Ich hatte an meinem Schreibtisch, mit dem Kopf auf meinen verschränkten Armen, geschlafen. Ich hob meine Arme an und warf einen Blick auf das Papier unter ihnen. Ich war mitten unterm Schreiben des Briefes eingeschlafen. Bisher hatte ich mich immer gefragt, wie man denn am Schreibtisch einschlafen konnte und jetzt wusste ich, man kann.
Ich hatte nicht geschafft, viel zu schreiben. Aber ich hatte heute Abend sicherlich noch ausreichend Zeit dafür. Es eilte ja nicht. Ich erhob meinen schmerzenden Körper und streckte dessen Gliedmaßen, ehe ich zu meinem Bett ging und auf das Handy sah, welches dort lud.
Seufzend ließ ich die Erkenntnis sacken, dass ich ohnehin in einer halben Stunde aufstehen müsste.
Also nahm ich mir frische Kleidung aus dem Schrank und tapste leise ins Badezimmer, um mich zu duschen. Es fiel mir jedesmal aufs neue schwer, meinen Körper zu berühren, um ihn zu waschen, weil ich die Masse einfach nicht akzeptieren konnte.
Als ich tropfend aus der Dusche stieg, bemerkte ich die schwarze gläserne Waage, die staubig halb unter einem Regal lag. Ich zog sie vorsichtig hervor und stellte mich erwartungsvoll darauf. Ich hatte mich seit meiner Entlassung nicht mehr gewogen und auch nicht darauf geachtet, weniger zu essen. Dennoch zeigte die Waage mir zweieinhalb Kilogramm weniger an, als mein Entlassungsgewicht war. Ich blickte das Gewicht enttäuscht an und stieg dann von der Waage. Auch wenn ich mich nicht bemüht hatte, abzunehmen, hatte ich ein niedrigeres Gewicht erwartet. Gleichzeitig erstaunte es mich, dass ich abgenommen hatte. Denn obwohl ich immer noch die Gedanken der Krankheit hatte, aß ich. Ich staubte die Waage ab, damit man meine Fußabdrücke im Staub nicht sah und schob sie an ihren vorherigen Platz zurück. Dann trocknete ich mich ab und schlüpfte in meine Kleidung. Während meine nassen Haare locker über meine Schultern fielen, nahm ich die Wimperntusche meiner Mutter, um mich damit zu schminken.
Ich besaß selbst kein Make-up, da ich nie das Bedürfnis hatte, es zu verwenden. Aber heute war mir danach, zumindest meine Wimpern zu tuschen.

Als ich die Treppenstufen hinabstieg und in die Küche ging, kochte meine Mutter bereits Kaffee. Ich wünschte ihr einen guten Morgen und nahm mir ein Stück Brot, da sie sowieso darauf bestehen würde. Sie grüßte zurück und setzte sich mit ihrer Tasse zu mir an den Tisch. „Du bist an deinem Tisch eingeschlafen.", bemerkte sie, während sie nach der Zeitung griff. „Hab ich bereits gemerkt. War nicht sehr bequem.", entgegnete ich und steckte mir etwas Brot zwischen die Backen. Es war unglaublich, wie meine Eltern mich nicht mehr darauf ansprachen, wie es mir denn ginge. Schließlich war ich für gesund erklärt worden. Meine kranken Gedanken sprach ich aus diesem Grund lieber nicht aus.

Ich hatte den letzten Bissen Brot geschluckt, als mein Vater die Küche betrat. Er machte sich ebenfalls einen Kaffee und ich musste mich an ihm vorbeidrängen, um die Küche verlassen zu können. Ich hatte keine Lust, der Gefahr zu laufen, ein richtiges Gespräch um diese Uhrzeit führen zu müssen und somit erschien es mir als eine gute Idee, mich aus dem Staub zu machen. Ich würde das Haus sowieso in zehn Minuten verlassen und somit zog ich mir bereits meine Schuhe an und warf einen Blick auf das Thermometer.
Es war schon jetzt am Morgen ziemlich warm und ich dachte an den Pullover, den ich jetzt in diesem Moment trug und den ganzen Tag tragen würde.
Ich zuckte mit den Schultern. Ich würde es schon überleben. Meine Eltern, die in der Küche saßen, unterhielten sich und ich verabschiedete mich kurz von ihnen, nahm dann meine Tasche vom Boden, die ich gestern nach der Schule dort abgestellt hatte und verließ das Haus.
Auf dem Weg zur Haltestelle kam ich an Mareikes Haus vorbei und sah zu ihrem Fenster hinauf. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, sie gesehen zu haben. Doch als ich einmal blinzelte, sah ich nichts als Vorhang, der die Sicht durch das Fenster unmöglich machte. Ich setzte meinen Weg seufzend fort. Ich war mir sicher, dass Mareike nie an mich dachte. Sowieso fragte ich mich, was sie tat. Sie hatte mir nie ihre Pläne nach dem Abitur mitgeteilt. Ich war sehr traurig darüber, dass wir uns so aus den Augen verloren hatten.
Zuerst der lange Streit mit ihr und dann mein Aufenthalt in der Klinik. Das schien unserer Freundschaft den Rest gegeben zu haben. Wir hatten uns auseinandergelebt und es war mir ein Rätsel, wie das ging, wenn man sich schon so lange kannte.
Ich gab die Hoffnung nicht auf, dass das nur eine Phase war und diese Phase bald vorüber war.
Als ich an der Haltestelle ankam, fuhr der Bus bereits her und ich stieg ein. Es waren ungewöhnlich viele Plätze frei und so setzte ich mich auf einen Sitz relativ hinten und legte meine Tasche auf dem Sitz neben mir ab. Ich war gespannt, ob die Lehrer heute, am zweiten Tag nach den Ferien, schon direkt voll loslegen würden oder ob es ein entspannter Tag werden würde. Zumindest der Stundenplan würde uns noch ausgehändigt werden. Ich war gespannt, welche Lehrer ich bekommen würde. Irgendetwas in mir wünschte sich Frau Cooper in einem Fach. Und irgendetwas sträubte sich dagegen. Sie wusste zu viel und ich wollte all das jetzt aus meinem Schulleben rauslassen, um die Schule zu einem Ort zu machen, an dem ich nur lernte.

Der Bus hielt an der Schule und ich nahm meine Tasche und verließ ihn. Ich hatte das Gefühl, dass es draußen nun noch wärmer war, was wohl daran lag, dass ich aus dem klimatisierten Bus nun an die frische Luft trat.
Auf das Schulgebäude strömten bereits viele Schüler zu und ich blickte sehnsüchtig den Schülern der fünften Klasse nach. Wie gern wäre ich nochmals in dem Alter. Zwar lebte ich da bereits bei meinem Onkel, aber ich hatte diese Gedanken noch nicht und hatte keine Angst, was mich in der Zukunft erwarten würde.
Ich folgte diesen Schülern und befand mich bereits wenig später in der großen Aula der Schule. Während die Fünftklässler im Nebengebäude der Schule ihre Klassenzimmer hatten, musste ich bis ins oberste Stockwerk gehen, um zu den Klassenzimmern der Abiturienten zu gelangen. Ich betrat das Zimmer und zwei Mädchen, die sich bis dahin angeregt unterhalten hatten, drehten sich um. Sie lächelten mich kurz an und redeten dann weiter. Ich ging die Tischreihen nach hinten und setzte mich auf meinen Platz. Bestimmt würde Fiona wieder zu spät kommen.
Aber es sah auch auf den anderen Plätzen mager aus. Es war noch fast keiner hier und in gut fünf Minuten würde der Unterricht beginnen.
Doch exakt mit dem Klingeln erschienen die restlichen Schüler. Sie redeten lautstark miteinander, während sie überall verteilt Platz nahmen. Nur Fiona ließ auf sich warten. Aber so wie ich gestern mitbekommen hatte, war das bei ihr ja Regelmäßigkeit. Als Herr Schwarz den Raum betrat, schlüpfte auch Fiona hinter ihm in den Raum und setzte sich auf ihren Platz, ehe Herr Schwarz etwas bemerken konnte. Sie grinste mich mit ihrem typischen Grinsen an und gab mir mit einem lautstarken Ausatmen zu bedeuten, dass sie sich sehr beeilt hatte.
Die Gespräche verstummten und Herr Schwarz händigte jedem Schüler einen Stundenplan aus. In den ersten Reihen hörte man bereits einige Schüler aufstöhnen, während andere sich freuten. Als der Plan in der letzten Reihe ankam, überflog ich ihn mit flinken Augen und diese entdecken den Namen Cooper. Mein Herz schlug schneller. Mathe. Na super. Ich stöhnte. Fiona kicherte: „Na, welchen Drachen hast du entdeckt?" Ich tippte mit dem Finger auf das Fach und murmelte: „Mathe." Fiona suchte das Fach auf ihrem Plan. „Hm, ich mag die Lehrerin nicht besonders, sie ist mir zu laut. Aber in Mathe bin ich eigentlich sehr gut. Wenn du möchtest, dann frag mich einfach, falls du etwas nicht verstehst.", bot sie an und ich bedankte mich lächelnd. Ich war ihr wirklich sehr dankbar. Zwar war ich vor meiner Krankheit selbst noch eine der besten Schülerinnen und vor allem Mathematik war ein sehr gutes Fach, doch es würde mir bestimmt mehr Motivation geben, würde Fiona mir helfen.
Und ich hoffte sehr, dass sie mich das Schuljahr über ein wenig stützen würde und ich nicht ganz so verloren in der neuen Klasse war.

BreathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt