40. Kapitel - Illegal

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Ich tippte seit einer halben Stunde eine Nachricht an Fiona und löschte sie dann doch wieder. Ich hatte davor geheult, weil die Vorstellung, dass sie mich verraten hatte, so schmerzhaft war. Meine Nachrichten schwankten zwischen Wut und Trauer. Ich würde sie gern verstehen. Hatte sie mir damit wirklich helfen wollen? Aber weshalb auf diesem Wege? Wirklich, weil ich ihr nicht mehr geantwortet hatte?
Ich löschte erneut ein paar Zeilen, die ich eben getippt hatte und legte das Handy dann weg. In der Sekunde vibrierte das kleine Gerät auf der Matratze. Fionas Name leuchtete auf. Sie schrieb mir, als sei nichts gewesen. Ich wischte die Nachricht vom Display weg. Ich war noch nicht bereit, mich dem zu stellen, wahrscheinlich war ich einfach noch zu geschockt. Mein Leben war auf einmal so anders. Mein Geheimnis, welches bisher immer hinter mir her ging, ging plötzlich voraus und wurde gesehen. Eigentlich war es alles, was ich immer wollte, aber es fühlte sich so fremd und irgendwie falsch an. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Hatte ich es mir überhaupt vorgestellt? Wahrscheinlich nicht, für viel zu unwahrscheinlich hielt ich es all die Jahre.
Wer war ich jetzt? Ich war nicht mehr die Magersüchtige, war nicht mehr die still Missbrauchte. Ich war auch nicht mehr die Streberin oder die Basketballerin. Ich war nicht mehr die Stille, die mit der wunderschönen, begehrten Mareike befreundet war. Ich war niemand mehr. Und genau in dem Moment schaltete sich die Stimme meiner Essstörung wieder ein und stellte ihr Flipchart auf, um mir einen Vortrag darüber zu halten, wie ich zuerst mich und dann die Welt retten könnte, würde ich doch nur ein Kilo abnehmen. Oder zwei oder drei, vier, fünf, zehn, zwanzig. Ich wusste genau, dass die Essstörung glaubte, ich könne selbst im Sarg noch irgendwas retten. Ich wusste aber eben, dass das nur die Essstörung war. Ich konnte mich distanzieren, aber es fiel mir schwer, mich nicht über die Anorexie zu identifizieren. Es war für mich nicht nur meine Erkrankung, es war meine Persönlichkeit und ich wusste, dass ich total krank war, weil mir diese sogar gefiel. Es fühlte sich einfach so mächtig und gut an, als könne ich etwas erreichen, als wäre ich richtig gut in etwas. Morgen musste ich wieder wiegen und dieses Gewicht würde vermutlich darüber entscheiden, wie es weiter ging. Eigentlich gefiel mir die Station B3 bisher durch ihre lockeren Regeln im Bezug aufs Essen. Auf der B1 würde ich nur wieder zwischen einem Haufen essgestörter Patienten im bewachten Bereich, vorgegebene Richtmengen essen müssen. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken. Vielleicht konnte ich beim Wiegen morgen schummeln.

Mein Blick fiel durch das Fenster nach draußen. Die Wege waren stellenweise noch nass, aber die Sonne schien, Menschen hatten sich wieder vor ihre Türen getraut und die Welt da draußen schien, als würde sie wieder leben. Seit ich hier war, war ich nicht mehr draußen gewesen, weswegen ich mir meine Schuhe anzog und mich beim Stationszimmer abmeldete. Fünfzehn Minuten durfte ich allein draußen unterwegs sein. Mit Mitpatienten wären es dreißig gewesen. Aber ich hatte mich bisher mit niemandem angefreundet oder mehr als drei Worte gewechselt, deshalb musste ich mich mit fünfzehn Minuten zufrieden geben. Es war besser, als nichts und deshalb beeilte ich mich auf dem Weg nach unten. Draußen war der einzige Bereich, in dem die Stationen aufeinander treffen konnten, wobei wir auf der B1 damals nur zu bestimmten Zeiten und mit Pflegekräften nach draußen durften. Etwas abseits der Türen standen zwei Mädchen meiner Station und rauchten. Sie gaben den Eindruck ab, sich schon ewig zu kennen und sahen auch nicht so aus, als wären sie hier Patient. Aber wem sieht man das auch schon an? Den meisten nicht.
Die Luft war trotz der Sonne kühler, als ich erwartet hatte. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, meinen Hoodie enger um mich zu schlingen. Die zwei Mädchen lösten sich aus dem Sonnenplatz und kamen auf mich zu. Ich wurde nervös. Was sollte ich jetzt tun? Stehen bleiben und blöd gucken? So tun, als hätte ich sie nicht bemerkt? Weglaufen? Weglaufen und schreien? Sie waren schon da. „Du bist Ema, richtig?", fragte die Größere der beiden. Sie war deutlich breiter als ich, ich passte vermutlich mit beiden Beinen in ihr linkes Hosenbein. Oder in ihr Rechtes. Dennoch war sie nicht dick. Sie war ausgesprochen hübsch, trug Makeup, welches sie locker aussehen ließ, als sei sie Mitte zwanzig. Ich räusperte mich peinlich. „Eh, ja. Ja, hi."
Soziale Kontakte knüpfen, wie ich es doch liebte. Ich war so nervös, dass ich mir richtig dumm vorkam. „Willkommen auf Station. Wie lange musst du bleiben?", fragte die Andere. Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, mir hat noch niemand was gesagt. Euch etwa?"
Die beiden nickten. „Ja. Wir sind zur Trauma-Intervalltherapie da. Es ist bereits unser zweites Intervall. Falls du Fragen hast oder Hilfe brauchst, kannst du uns gern jederzeit ansprechen.", sagte die Eine wieder.
„Ja, danke", sagte ich. Im Leben nicht, dachte ich.

Es war ein einsamer Tag, umgeben von Menschen. Ich fühlte mich von allen fern. Ich hatte meine Viertelstunde draußen eigentlich bereits aufgebraucht, aber ich stand noch immer an der Stelle, an der ich mich mit den beiden Mädchen unterhalten hatte. Dann setzte ich einen Fuß vor den anderen und bewegte mich immer weiter vom Klinikgebäude weg. Schon im Gehen wusste ich, dass das eine total blöde Aktion war, aber meine Beine trugen mich einfach weiter fort. Ich hatte kein Ziel, außer, weg zu kommen. Ich wollte nicht mehr mit meiner Vergangenheit konfrontiert werden, das Gesehenwerden überforderte mich. Mir war schon klar, dass ich das mit Weglaufen nicht erreichen würde und ich hasste es, dadurch wieder negativ aufzufallen, aber im Moment war es mir auch ein bisschen egal.
Ich lief weiter, beschloss, mir Rasierklingen zu besorgen, verwarf es wieder und stand im nächsten Moment trotzdem vor der Drogerie. Hatte ich Geld? Ich kramte in meiner Hosentasche und ertastete ein paar Münzen. Nichtmal annähernd genügend Geld, um mir Klingen kaufen zu können. Ich ging trotzdem hinein. Es war ein Stück verrückte Normalität, Menschen die einkauften, Menschen die kassierten und das gleichzeitig deren Job war und ich: abgehauen aus der Klapse.
Langsam ging ich durch die Gänge. War mein Fehlen schon aufgefallen? Die Rasierklingen waren verdammt teuer. Ich nahm eine Packung und steckte sie mir wie selbstverständlich unter den Pullover. Ich ging weiter durch die Gänge, hielt mich an dem kleinen Kühlschrank mit Getränken auf. Was würde passieren, wenn man mein Fehlen in der Klinik bemerken würde? Sollte ich Angst haben? Ich nahm eine Cola Zero aus dem Kühlschrank und ging zur Kasse. Wie verhielt ich mich, wenn ich, so wie sonst mein komplettes Leben über, nichts klaute? Ich grüßte die Kassiererin, die meine Cola über die Kasse zog. Ich bezahlte, meine Münzen reichten knapp aus. Das Gerät an der Kasse druckte meinen Kassenbon aus. Ich nahm ihn dankend entgegen. Waren die Rasierklingen Diebstahl-gesichert? Hoffentlich nicht. Aber ich konnte schnell rennen. Jedenfalls früher. Vor der Essstörung. Mein Herz raste, als ich der Dame, die mich bediente, einen schönen Tag wünschte und auf den Ausgang zu ging. Die Türen öffneten sich automatisch, ein großgewachsener Mann, der es offensichtlich eilig hatte, quetschte sich an mir vorbei und rempelte mich dabei an. Ich stolperte durch die Tür. Kein Piepen. Meine Beute war noch an Ort und Stelle.
Was war eigentlich los mit mir? Ich erkannte mich selbst nicht wieder, wer zur Hölle war ich? Was tat ich hier eigentlich? War ich ernsthaft abgehauen? War es schon aufgefallen? Und was fiel mir verdammt nochmal ein, zu klauen?
Meine Beine trugen mich auf eine Ansammlung von Bäumen zu. Ein kleiner Wald, welcher so gut wie unberührt war. Man traf hier selten jemanden.
Verflucht, Ema. Was tust du?, schrie ich mich innerlich an.

BreathWo Geschichten leben. Entdecke jetzt