32. Kapitel - Minderjährig

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Es gab Momente im Leben, die so ruhig und rein waren, dass sich die Seele für einen Moment von ihrem Körper entfernen konnte.
Leise und unbemerkt ließ sie ihre Hülle für einen Moment zurück, gebadet in hellem, weißem Licht.
So friedlich, fast als wäre es ein Schläfchen in einem privaten Rosengarten, gebettet auf tausend kleinen Kleeblättern, erfüllt von warmen Sonnenstrahlen und angenehmem Duft.
Die Seele war ein stiller Beobachter, all ihre Wunden und Narben gingen in die Luft über und verpufften zu Blüten-Staub.
Nichts war zu hören. Nur ein leichter Wind, der das Gras sachte in seinen Armen trug, es hin und her schaukelte.
Der Horizont schien endlos, viele Kilometer reines weiches Gras, glückliche Kleeblätter und ergänzende Stille. Keine Sorgen, kein Schmerz.
Ein sanfter Schleier weißen Nebels umgab die Seele, spendete Sicherheit und Geborgenheit. Weiche Umarmungen samtiger Handschuhe, vorsichtig und behutsam.
Sie war alleine, aber nicht einsam. Es war ein Ort der Heilung. Der Friedhof für tote Seelen. Ein Erholungsort für stark verwundete Seelen. Niemand würde sie hier stören.
Aber vielleicht ist es auch nur ein Zwischenschritt zum Himmel. Ein friedlicher Übergang eines schmerzerfüllten Lebens in die Weite des Universums.

Ich war bei Bewusstsein, als die Rettungskräfte eintrafen.  Sie hatten die Türklingel betätigt und ich hangelte mich an meinem Bett hoch, kam schwankend auf meinen Füßen zum Stehen.
Panik machte sich in mir breit, ich fühlte mich schwach und betäubt.
Mein Zimmer war vergiftet mit roten Flecken, ein einziges Chaos.
Ich schloss die Zimmertür auf und konnte von der obersten Treppenstufe die Sanitäter durch das kleine Fenster an unserer Haustür bereits sehen.
Ich umklammerte das Holzgeländer, während ich die Stufen hinab stieg und setzte mich dann auf die unterste Stufe, von der aus ich nach der Türklinke langte. Die Tür sprang auf und die Sanitäter traten ein. Ein getummel schwarzer Schuhe auf dem Boden, weiß-oranger Beine vor meinem Gesicht.

Meine Welt war die Vorstufe zur Hölle. Dunkel, chaotisch und laut. Erfüllt von Hass, Schmerz und Wut.
Schreiende Vorwürfe, bitterer Selbsthass.
Es war so laut, alles funktionierte nur noch auf Autopilot. Ich war wach, ich war am Leben. Meine Seele war gefangen in meinem Körper, in einer ruhelosen Welt. Sie starb in einsamer Kälte und beißenden Schreien.

Meine Wunden wurden erst-versorgt, zwei Sanitäter stützten mich bis in den Rettungswagen. Mir wurde ein Zugang gelegt, ich bekam eine Infusion, Stimmenwirrwarr, Unruhe.

Wenn ein Körper über einen sehr langen Zeitraum unterernährt ist, tragen Organe Schäden davon. Irreparabel. Der Magen zieht sich zusammen, das Hirn stirbt langsam. So lange, bis der Tod sich so weit ausgebreitet hat, dass selbst geringste Mengen Nahrung einfach abgestoßen werden. Der Körper erkennt seine Rettung nicht mehr, denn es ist zu spät. Das Herz tut seinen letzten Schlag, die Seele entweicht aus ihrer engen Hülle und fliegt dem Frieden entgegen.
Einsam lässt sie den Körper zurück, schüttelt all den Schmerz ab. Puff. Blüten-Staub.
Sie weiß noch nicht, dass sie vielleicht niemals heilen wird.
In der Welt der Körper geschehen grausame Dinge. Dinge, die keine Seele ertragen kann. Sie kauern sich verzweifelt in ihren Hüllen zusammen, schließen die Augen und geben vor, nicht zu wissen was passiert ist. Selbstschutz.
Der Körper transportiert seinen verletzlichen Gast dorthin, wo er möchte. Durch Brutalität und Schmerz. Durch Angst und Wut. Durch Panik und Hilflosigkeit. Die Seele möchte entkommen, hat aber keine Chance. Selbstzerstörung.
Blut als Symbol des Schmerzes, als stiller Hilfeschrei. Ungern gesehen und verpönt.
Selbstverletzung war eine laute Sprache, hungern ein eindringlicher Ruf.
Verachtung war die Antwort.

Ich war eine Last, die vermutlich gerade einen armen Menschen sterben ließ.
Ich war mir nicht sicher, in welcher Welt ich gerade war. Aber ich war mir sicher, nicht hierher zu gehören.
Mein Platz war noch nicht bestimmt.
Aktuell war er jedoch in einem Rettungswagen auf dem Weg zum Krankenhaus. Einer der Sanitäter hatte meine Mutter auf dem Handy angerufen, sie würde mich dort treffen.
Ein anderer hatte mich nach meinem Gewicht gefragt. Ich nannte ihm eine Zahl. Ich log.
Über meinem halbnackten Körper lag eine Decke.
Das Krankenhaus war mein Ort des Versagens. Hier landete ich nur, wenn der Weg ins Jenseits zu holprig war. Ich beanspruchte Hilfe, die ich nicht verdient hatte.

Der Raum war groß und mit vielen Schränken ausgestattet. Ich hatte die Liege des Rettungswagens vergiftet. Rote Zeichen von Wut und Schmerz. Die Mullbinden an meinen Armen waren nicht mehr weiß.
Ich verfolgte die Übergabe gefühlslos.
Meine Arme wurden abgedeckt, entblößt.
Ich verlor immer noch Blut.
Eine OP war unumgänglich. Ich hatte viel Schaden angerichtet, aber der Arzt war nett.
Meine Seele weinte bitterlich. Ich weinte bitterlich.
Ich war kraftlos und erledigt.
Das Leben konnte so nicht mehr funktionieren, der Tiefpunkt war tiefer als gedacht und weiter vom Tod entfernt, als vorstellbar.
Wenn man einmal ganz unten ist, kommt man so schnell nicht wieder hoch.

Meine Mutter traf ein, kurz bevor ich in den OP kam.
Ihre Augen waren glanzlos, der Gesichtsausdruck enttäuscht. Mir tat es leid.
Wie gern ich doch mein Leben dafür geben würde, dass sie Charly wieder haben könnte.

Ich wurde nur örtlich betäubt, die Wunden an meinem linken Arm wurden genäht, Stich für Stich.
Am rechten Arm hatte ich eine Sehne verletzt. Der Chirurg brauchte lange für die komplette Versorgung. Wie viel er wohl durch mich verdient hatte?
Was verdienen Chirurgen pro Stunde?
Nach der OP bekam ich Ruhe verordnet. Meine Arme waren verbunden und mit Schienen ruhig gestellt. Es ließ mich wehrlos fühlen.
Meine Mutter war bei mir, mein Vater würde auch bald kommen.
Sie sah an mir vorbei. „Sie wollen dich nicht mehr gehen lassen.“
Ihre Augen suchten meine. Meine bohrten sich starr durch sie hindurch. „Ich bleibe aber nicht!“, protestierte ich.
Sie hob langsam die Schultern und senkte sie wieder. „Du bist minderjährig. Ich habe zugestimmt.“
Sie hat zugestimmt. Ich bin minderjährig. Noch.
Ich sah sie ungläubig an.
Das war ein Scherz, oder?
Solange man still schweigend leidet, ist alles in Ordnung. Aber seinen Schmerz zum Ausdruck zu bringen, war eine Schande, ein Grund, mich wegzusperren.
Dass es nur zu meinem Besten sei, wollte ich nicht einsehen.
Die Kraft mich dagegen zu wehren, hatte ich aber irgendwo zwischen Schlägen, Schmerzen und Schreien verloren. Also ließ ich es geschehen.

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