27. Kapitel - Endlich

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Ich hatte seit Tagen nicht geduscht und nochmal einiges an Gewicht abgenommen. Mir fehlten nur noch fünf Kilogramm bis zu meinem Tiefgewicht und zudem nur noch fünf Wochen, bis zu meinem Geburtstag. Dann würde ich volljährig werden.

Ich hatte seit bestimmt einer Woche nicht auf Fionas Anrufe oder Nachrichten reagiert und dennoch versuchte sie es immer wieder und schickte mir täglich einen Guten Morgen.
Auch jetzt vibrierte mein Handy in meiner Jackentasche. Ich stand leicht gekrümmt vor dem Eingang meiner Psychologin. Seit Tagen hatte ich mich nur noch von Orangensaft ernährt und jetzt furchtbare Magenschmerzen. Es war ein bisschen Zeit vergangen, seit meinem letzten und ersten Termin hier. Zeit, in der ich einiges an Gewicht verloren hatte.
Ich war heute allein hier, mein Vater hatte nur vereinbart, mich am ersten Termin zu begleiten.
Doch ich konnte mich nicht dazu überwinden, einzutreten. Es war bereits eine Minute nach meinem eigentlichen Termin.
Ich atmete tief durch und öffnete die Glastür, in der ich mich spiegelte.

Die wenigen Stufen strengten mich ungemein an, und als ich die Tür öffnete, hielt ich mich länger als ich sollte am Türrahmen fest. Dr. Ahnsmann sah mich und begrüßte mich lächelnd. „Hallo Ema! Heute ohne deinen Vater?“, fragte sie freundlich. Ich zuckte die Schultern und folgte ihr in ihr Büro.
Erschöpft ließ ich mich auf den Stuhl fallen. Obwohl es von der Haltestelle bis hierher nur weniger als fünfzig Meter waren, war ich absolut außer Atem.
Dr. Ahnsmann bot mir Wasser an, doch ich lehnte dankend ab, da die Glasflasche bereits geöffnet war und mein paranoides Ich Angst hatte, dass Zucker in das Wasser gegeben wurde. Da hatte ich lieber Durst.
Mein Liter Orangensaft mit Fruchtfleisch war das Einzige, was ich mir seit Tagen erlaubte. Wenn ich mich an einem Tag ein bisschen lieb hatte, trank ich noch ein Glas Wasser zusätzlich. Wenn ich mich nicht mochte, wollte ich meiner Schande von Körper kein reines, sanftes Wasser erlauben.

„Wie geht's dir heute?“, fragte die Psychologin und legte sich ihre Notizen zurecht. Ich zuckte erneut mit den Schultern: „Gut. Schätze ich.“
„Du weißt, dass du mir nichts vormachen musst, oder? Sei ruhig ehrlich. Egal ob es dir gut oder schlecht geht, oder du es nicht genau weißt.“, ermutigte die Ärztin mich.
„Es war schwierig... die letzten Tage.“, sagte ich ehrlich.
„Ist denn etwas passiert, das deinen Zustand verursacht hat?“, wollte sie wissen.
Ich schluckte schwer, spürte die Tränen in meinen Augen brennen. Nicht nachgeben.
Seit Tagen hatte ich nichts gefühlt, all die wiederkehrenden Gedanken hatte ich erfolgreich verdrängt, doch jetzt brannte der Traum wieder in meiner Seele.
Und ich wusste, ja es war ein Traum. Aber der Traum war Realität. Damals, vor fast zehn Jahren.
„Ich hatte vor einigen Tagen einen Traum, der mich an etwas erinnert hatte, das ich bereits vergessen hatte.“, sagte ich wieder ehrlich. Ich fühlte meinen Puls im Hals.
Die Wahrheit konnte ich nicht sagen. Ich kannte sie ja noch gar nicht wirklich.
„Möchtest du erzählen, an was du erinnert wurdest?“, fragte Dr. Ahnsmann sanft.
Ich faltete nervös meine Hände ineinander.
„Ich glaube das kann ich nicht. Ich möchte noch nicht wieder darüber nachdenken.“, erklärte ich leise und war froh, ehrlich gewesen zu sein.
„Das ist in Ordnung.“, lächelte die Psychologin. „Fühlst du dich kräftig genug, um an letztes Mal anzuknüpfen?“
Ich nickte und versuchte zu lächeln. Ich war mir nicht sicher, ob mir das gelang.
Dr. Ahnsmann warf einen kurzen Blick auf ihre Notizen. Dann sah sie mich wieder an.
„Du hast also mehrere Jahre bei deinem Onkel gelebt. Wer hat noch in dem Haus gelebt? Nur ihr beide?“
Ich nickte. „Das erste Jahr hat noch seine Frau mit bei uns gelebt, aber die hat sich dann von ihm getrennt. “
Die Psychologin notierte sich etwas. „Wie war das für dich? Mochtest du deine Tante?“
Ich dachte nach. Ja, ich mochte sie eigentlich. Sie konnte aber mich nie besonders leiden.
„Es war eine nicht ganz so schwere Zeit, als sie noch nicht getrennt waren. Aber meine Tante war nie einverstanden, dass ich einziehen sollte. Mein Onkel war das meiner Mutter allerdings schuldig.“
„Warum war er deiner Mutter das denn schuldig?“, hakte die Ärztin nach.
„Sie hatten vor meiner Zeit mal eine Affäre, in welcher sie schwanger wurde und er wollte, dass sie abtrieb. Sie wollte das Kind eigentlich behalten, weil sie mit meinem Vater lange nicht schwanger werden konnte und das nicht kaputtmachen wollte, als es - zwar mit meinem Onkel - endlich klappte.“, wiederholte ich das, was meine Eltern mir erzählt hatten.
Ich realisierte, wie verkorkst meine Familie tatsächlich war.
Seltsam, dass einem das immer erst auffällt, wenn man es ausspricht.
„Und deine Tante, die hat deinen Onkel dann verlassen, weil er deiner Mutter den Gefallen getan hat?“, fragte sie, während sie auf ihren Notizen schrieb.
Ich zuckte die Schultern: „Das weiß ich nicht. Ich vermute es. Kate konnte nie schwanger werden und wollte kein fremdes Kind in ihrem Haus.“
Dr. Ahnsmann nickte langsam. „Wie hat sie dich spüren lassen, dass sie dich nicht haben möchte?“
„Mir gegenüber hat sie nie etwas gesagt, auch wenn sie nie liebevoll war. Aber ich weiß, dass sie oft mit Peter wegen mir stritt. Das hat mein Onkel mir all die Jahre immer wieder vorgeworfen. Dass ich seine Ehe zerstört hätte...“, sagte ich und spürte die Schuld auf meinen Schultern.
„Wenn dein Onkel sehr wütend war, wie hat sich das dann geäußert? Dir gegenüber?“, wollte sie wissen.
Ihre Stimme war sanft.
Sie gab mir das Gefühl, dass es keine große Sache war, endlich darüber zu sprechen.
Ich hatte jedoch Angst, sie würde mir nicht glauben.
Andererseits, was war schon dabei? Fiona hatte ich es bei unserem letzten Treffen auch erzählt. Wenn auch total knapp und kurz bevor ich aus der Situation fliehen konnte.
Das konnte ich hier nicht, meine Zeit war noch nicht abgelaufen.

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